Mülheim. Es ist ein böses Märchen, das von Nähe erzählt, die nur durch Gewalt und Unterdrückung erreicht werden kann: Roberto Ciulli bringt nach 24 Jahren die deutsche Erstaufführung von Rainer Werner Fassbinders Tabu-Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" auf die Bühne. Endlich.

„Der Müll, die Stadt und der Tod” – der Titel ist Legende in der deutschen Nachkriegsliteratur. Doch die wenigsten kennen den Text, obwohl man ihn gelesen haben könnte; so wurde der Titel zur Chiffre, die sinnlos Angst hervorbringt und Wut.

Chiffre für sinnlos Angst und Wut

Als Roberto Ciulli ankündigte, er werde Fassbinders Tabu-Stück auf die Bühne bringen, regte sich Unruhe. Demonstranten hatten 1985 die Uraufführung in Frankfurt verhindert; es hieß, das Stück handle von einem reichen Juden, einem Häuserspekulanten, und er trage Züge von Ignatz Bubis. Der Zentralrat der Juden protestierte.

Jetzt, 24 Jahre später, warnte er wieder – das ist verständlich, lässt aber außer Acht, dass das Stück inzwischen in Israel mit Erfolg gezeigt wurde. Und dass die Inhaltsangabe um Wesentliches verkürzt ist. Denn dieses Stück ist ein Märchen; ein böses Märchen, und befrachtet mit aller Fantasie, aller Sentimentalität und allem Zynismus, die Fassbinder aufbrachte.

Schon möglich, dass ein so zweideutig schillerndes Stück erst heute in Deutschland als das wahrgenommen werden kann, was es ist: ein Spiegel der Gesellschaft, der den Juden braucht, um den noch immer existierenden Faschismus zu zeigen. Dass er dabei das verzerrte Bild des Juden benutzt, den verbrecherisch erzeugten Mythos, darin liegt eine unerhörte Provokation.

Grelle Beklemmung und analytische Schärfe

Roberto Ciulli schafft mit diesem Text einen Abend von greller Beklemmung und analytischer Schärfe. Schwerelos führt er die wahre politische Dimension des Stückes vor, lässt es ins Surreale gleiten, wo Fassbinder in Gewalt und perversem Sex versinkt und umrahmt das Tabu-Stück mit zwei früheren Kurz-Dramen: So wird ein Triptychon daraus, das Zusammenhänge schafft und erhellend wirkt.

„Nur eine Scheibe Brot” ist das schwächste der Stücke; unter langen Szenen wird die erdrückende Botschaft unscharf. Trotzdem wird ein Grundthema deutlich.

Ein ehrgeiziger junger Regisseur will einen Spielfilm über Auschwitz drehen, doch er verzweifelt an der Frage: Was geschieht mit uns, wenn wir aus der furchtbaren Wirklichkeit ein Spiel machen wollen? Ciulli schafft starke Bilder: Särge, in die sich Menschen sperren lassen, Brot, aus dem Blut fließt. Simone Thoma als Regisseur bleibt eindimensional; später wird sie der Jude sein und noch später ein Außerirdischer, der an den brutalen Floskeln der Menschen scheitert. Dann wird alles anders, dichter, zwingend.

Klage über die Kälte in der Welt

„Der Müll, die Stadt und der Tod” bricht aus wie ein Sturm, der den Atem nimmt. Die Hure Roma, die nicht zufällig so heißt, findet keine Freier; die Männer spüren, dass sie krank ist. Doch ihr Zuhälter schickt sie zurück in die Kälte – als wäre es eine Szene von Hans Christian Andersen. Da trifft sie den Juden. Er fährt im Sarg herein, lehnt lässig auf dem Totenkissen; bei ihm sind der kleine Prinz und ein Zwerg. Fabelwesen wie er. Und es beginnt ein irrwitziges, wirbelndes Spiel: Der Zwerg hält eine Hassrede, spricht jedes Klischee, jede Bosheit aus. Das ist schwer zu ertragen. „Den haben sie vergessen zu vergasen” – das war in den 80er Jahren ein Satz, der in der Wirklichkeit vorkam. Jetzt ist er auf der Bühne und verstört. Und der Jude liegt im Sarg und lacht; Simone Thoma wird zum Kobold, zum zuckenden, gebrochenen Menschen, der mit der Trillerpfeife nach seinen Begleitern schrillt; hechelnd und grimassierend dirigiert der Jude selbst die Tiraden, die ihn treffen, er kennt seine Rolle und ergibt sich ihr. Da wird aus Spiel, aus Mythos Wirklichkeit: „Die Geschäfte gehen gut, das will bestraft sein.”

Am Ende konfrontiert der Jude Roma mit ihrem Vater, einem Travestie-Künstler. Einem, der es gewöhnt ist, sich zu verstellen. Er sagt ruhig: „Ich habe mich um den einzelnen, den ich tötete, nicht gekümmert. Aber es ist möglich, dass ich der Mörder seiner Eltern bin, und ich wäre es gern. Also bin ich's.” Da legt Roma sich in den Sarg und lässt sich vom Juden totküssen. Sie will nicht mehr leben.

Was für ein Stück. In Ciullis Inszenierung wird eine Apokalypse daraus, eine leidenschaftliche Klage über die Kälte in der Welt, und darüber, dass die Menschen zur Nähe nur finden durch Gewalt und Unterdrückung.