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Er soll dem Ruhrgebiet aus der Singkrise helfen: Anthony Heidweiller, Sänger und Gründer des Jugend-Oper-Festivals „Yo! Opera” in Utrecht, sucht als Chef eines Ruhr.2010-Projekts Chor-Nachwuchs. Die zentrale Frage: „Wer singt in meiner Straße?”

Herr Heidweiller, wer singt denn in Ihrer Straße?

Heidweiller (stutzt): Eine schöne Frage. Also, der Nachbar zwei Türen weiter. Und gegenüber wohnt, glaube ich, eine Sängerin. Da sehen Sie, wie schön das wäre: So wie an einem alten Haus ein Denkmalschild klebt, sollte an jeder Tür auch ein Hinweis kleben – Hier wohnt jemand, der singt.

Muss man das wissen?

In dieser Welt, wo es immer mehr Probleme gibt, brauchen wir mehr emotionale Antworten. Und Singen ist Emotion. Wir müssen uns vom Sing-Virus wieder anstecken lassen! Die Menschen sind so, dass sie gern zusammen leben: essen, tanzen, spazierengehen und auch singen – alle mitein­ander. Ein Chor hat große Kraft.

Worin liegt die?

Da kommen 20 oder 100 Leute zusammen und präsentieren eine gemeinsame Farbe. Dabei sind sie immer noch 20 oder 100 Individuen mit eigenem Charakter. Aber sie bilden einen Körper. Wunderbar!

Und wie wirkt diese Kraft?

Laienchöre sollten ein Spiegel der Welt sein, leider nehmen sie eher Abstand von der Welt, in der wir leben. Das erste, was ich im Ruhrgebiet gesehen habe ist: Dies ist eine kosmopolitische Metropole. So viele Sprachen und Rhythmen: Wir sollten den Nachbarn einladen! Das wäre Globalisierung in der Chormusik.

Aber Chöre sind meist Vereine – da ist es nicht immer leicht, Zugang zu finden.

Es sollte normal sein, dass man da hingeht. Aber ich habe auch immer gespürt: Die Kultur eines Chores ist Offenheit. Jeder Mensch ist dort aus tiefstem Herzen willkommen. Vor allem, wenn man merkt, dass der Sänger intensiv übt.

Ist denn jeder ein Sänger?

Das glaube ich absolut. Jeder Mensch ist ein Sänger, Tänzer, Maler, ein Künstler! Deshalb finde ich es so schön, dass Ruhr.2010 die Laienkultur nicht in eine Nische steckt, sondern das Singen beim Day of Song auf dieselbe Ebene stellt wie die Oper.

Und was ist mit denen, die nicht singen können?

Jeder kann singen! Es ist doch fürchterlich zu sagen: Du kannst nicht singen. Das ist dasselbe wie: Du bist dumm! Unsere Kultur von Schallplatten und CDs hat furchtbare Dogmen entwickelt und viel Authentizität kaputt gemacht. Wir müssen vom Blatt singen oder alles auswendig lernen. . . Wo bleibt da die Improvisation, wo treffen wir einander?

Aber es gibt viele, die sich selbst nicht hören können.

Das liegt zwischen den Ohren. Bei den Leuten, die keinen Ton halten können, hat das etwas zu tun mit Trauen. Darf ich mich selbst klingen lassen? Die hier den Mut nicht finden, sind meist Menschen, die auch in der Gruppe Schwierigkeiten haben, sich vernehmen zu lassen.

Ich kenne Leute, die sehr selbstbewusst sind – und sehr falsch singen.

Jemand, der eine starke Meinung hat, hört nicht auf die anderen. Jemand, der offen ist für andere Meinungen und zuhört, wird sauber singen. Die anderen müssen, um zu überzeugen, immer höher und lauter singen.

Woran liegt es, dass den Chören junge Leute fehlen?

Das liegt in der Kultur, die uns über Casting-Shows im Fernsehen vermittelt wird: Wer singt, muss ein Star werden. Wenn du aber immer nur Popstars imitierst, dann entwickelt sich nichts. Wir müssen wieder klar machen, wie schön Kommunikation ist.

Kommunikation?

Wir kommunizieren eigentlich nur noch mit dem Bildschirm. Wir mailen und smsen. Wir müssten einander wieder hören, hören, wie wir wirklich reden. Oben, unten, wie der Rhythmus ist. Deshalb ist Singen so wichtig! Und wer singt, kommuniziert anders. Wir brauchen diese Sensibilität des Aufeinander-Hörens im täglichen Leben.

Sind Sänger also andere Menschen?

Ja. Sie haben einen besonderen Kontakt mit ihrem Körper, sie machen dauernd eine innere Reise. Jeder hat dieses In­strument. Sobald man anfängt, es zu gebrauchen, ist man plötzlich tief in sich drin.

Jugendliche finden solche Gedanken eher uncool.

Man muss gucken, was brauchen wir für diese Gruppe. Es geht immer um Harmonie und Schönheit, aber die Jugend braucht etwas, was ein bisschen kracht. Die Chorwelt muss sich dabei immer fragen: Wo stehen wir, was machen wir, das ist auch eine wichtige Rolle für die Komponisten. Man darf aber auch vor Veränderungen keine Angst haben!