Potsdam.
Roland Emmerich lässt es gerne im großen Stile krachen: „Anonymous“ rüttelt am Dichter-Denkmal. Er kreist um die uralte Frage der Autorschaft: Steckt hinter dem epochalen Werk tatsächlich der talentierte Junge – oder ist „Shakespeare“ das Pseudonym eines unbekannten Meisters?
Wie bitte? Kein Erdbeben, keine Massenpanik, nicht mal ein bisschen Apokalypse – doch keine Sorge: Auch Roland Emmerichs Shakespearefilm „Anonymous“ wird wieder ein Katastrophenfilm. Diesmal allerdings für den strenggläubigen Teil der Shakespeare-Gemeinde.
Der 54-jährige Hollywoodgrobian mit den schwäbischen Wurzeln dreht seit 20 Jahren zum ersten Mal wieder in Deutschland. Für „Anonymous“ hat Emmerich auf dem Brachland der Babelsberger Studios das berühmte Londoner „Rose“-Theater aus dem 16. Jahrhundert nachgebaut, dazu einen Straßenzug mit düsteren Fachwerkhäusern, schlammigen Rinnsalen und qualmenden Kaminen. Kein Rosamunde-Pilcher-England, sondern das menschliche Sumpfgebiet, aus dem Shakespeares Dichtung wuchs.
400 Komparsen hat Emmerich angeheuert – rothaarige Frauen und Männer mit Zahnlücken, Einäugige, Verwachsene, Amputierte. Für Hans-Joachim Fisch ist das schon Routine. Der 63-Jährige war schon Statist in über 50 Filmen, erst neulich bei „Inglourious Basterds“ hat er einen deutschen General gespielt. „So gesehen, ist das ein Abstieg“, sagt Fisch und schaut zu, wie seine wildledernen Latschen im Schlamm versinken. Dann muss er rein ins „Rose“ – letzte Klappe für heute.
Roland Emmerich, in Polohemd und Jeans, wird später an diesem Donnerstag vor über 100 Journalisten aus aller Welt über sein „Nachhausekommen“ sprechen, über den alten Traum, in Babelsberg zu drehen, und natürlich seine großartigen britischen Schauspieler loben: Vanessa Redgrave und Redgraves Tochter Joely Richardson spielen die alte und die junge Königin Elisabeth; Rhys Ifans (bekannt als durchgeknallter WG-Kumpel in „Notting Hill“) spielt den 17. Earl of Oxford, von dem viele glauben, dass er in Wahrheit hinter dem Shakespeareschen Werk steht. Ifans – groß, blond, hohe Stirn – setzt sich aufrecht: „Ich“ , sagt der Waliser mit seinem dunklen Akzent, „spiele den Autor dieser Werke.“ Die Rolle sitzt.
Emmerichs mit 30 Millionen Dollar diesmal vergleichsweise kleiner Film kreist um die uralte Frage der Autorschaft: Steckt hinter Shakespeares epochalem Werk tatsächlich der talentierte Junge aus Stratford-upon-Avon – oder ist „Shakespeare“ das Pseudonym oder der Strohmann eines unbekannten Meisters, vielleicht sogar einer Autorengruppe? Die Liste der Kandidaten reicht von Francis Bacon über Christopher Marlowe bis zu Königin Elisabeth. Viele tippen, wie erwähnt, auf Edward de Vere, den 17. Earl of Oxford, der exzellente Bildung, Italienerfahrung und Kenntnis der höfischen Gesellschaft hatte.
Wilde Spekulationen
Wo es kaum Fakten gibt, lässt sich wild spekulieren. „Wir wissen fast nichts über Shakespeare“, sagt Schauspieler Ifans – aber alles über seine Wirkung: „Dies ist der Anfang der Welt, wie wir sie kennen.“ Auch die 73-jährige Vanessa Redgrave kann gut leben mit den offenen Fragen, bis hin zum Geschlecht: „Wir sagen ,er’ zu Shakespeare, weil wir gelernt haben, das zu sagen.“ Drehbuchautor John Orloff platzt da kurz der Kragen: Als ob es in einem Emmerich-Film auf einmal nur noch um akademische Fragen ginge. Nein: Verschwörung, Affäre, Kostümthriller – das sind die Wörter, die sich die Journalisten bitteschön notieren sollen.
Und natürlich: Auch bei „Anonymous“ (Kinostart 2011) wird es die berühmten Emmerich-Totalen geben, die das ganze Ausmaß einer Erschütterung zeigen. In Babelsberg arbeiten die Computertechniker gerade an einer Massenszene auf der zugefrorenen Themse von 1603 mit dem Trauerzug der verstorbenen Königin. Denn auch wenn das Budget für visuelle Effekte nur ein Bruchteil ausmacht im Vergleich zu „2012“ oder „Independence Day“ – Volker Engel, der schon seit 22 Jahren mit dem Regisseur zusammenarbeitet, kann sich über Langeweile nicht beklagen: „Wir drehen hier nicht mit fünf Personen in drei Räumen – es wird ein Roland Emmerich!“