Essen.

. Die Ausstellung „Ruhrblicke“ zeigt die Region mit ihren Rissen und Narben; mit schütteren Birken und bröckelndem Putz. Ohne Kumpel und Taubenväter. Künstler suchen die Wahrheit hinter den Bildern, auch hinter den hässlichen, und manchmal entdecken sie Schönheit.

Das erste Bild ist ein Schock; man weiß nicht gleich, warum. Erst allmählich wird klar: Ein Hüttenwerk in Farbe, das ist ein Sakrileg, mindestens Götterlästerung. Wo Bernd und Hilla Becher Fördertürme, Gasometer und Stahlwerke streng grafisch fotografierten - schwarz oder vielmehr kohlenstaubgrau auf weiß: Da fließt bei Matthias Koch die Schlacke flammend orangerot. Und sein Himmel ist himmelblau.

Neue Bilder aus dem Ruhrgebiet zeigt die Kulturhauptstadt auf Zollverein; fast alle Fotos sind für die Ausstellung neu entstanden. Und sie alle sind mehr als dokumentarisch; künstlerisch inszeniert in Details und großartigen Panoramen. Jedes Foto, jede Sequenz hat eine eigene Sprache, jeder Künstler zeigt auf seine Art, dass das neue Ruhrgebiet das alte in sich trägt; dass das Alte sich häutet zum Neuen. Dass aus der Auflösung Zukunft wächst.

Betonwände, Bäume, struppiges Gesträuch

Das ist nicht immer so plakativ wie bei Koch. Elisabeth Neudörfls Fotos, die einzigen schwarz-weißen neben einer knappen, starken Hommage an die Bechers, zeigen Grün vor Platte; Fragmente von Betonwänden, Bäumen, struppigem Gesträuch. In Dortmund, Essen und Bochum; es könnte auch Hannover sein. Der Schwarzwald kaum. Jedes Bild ist dem nächsten ähnlich, jedes zieht den Betrachter weiter; ein Appell zu schauen. Wahrzunehmen.

Schön ist das nicht. Wie sollte es schön sein? Das Ruhrgebiet hat idyllische Plätze, jeder ordentliche Fotograf kann sie als Touristenziel präsentieren. Doch der neue, fragende Blick aufs Ruhrgebiet zeigt die Region mit ihren Rissen und Narben; mit schütteren Birken und bröckelndem Putz. Ohne Kumpel und Taubenväter; die sind nicht nur Klischee, sondern inzwischen auch in der Minderheit. Aber mit der symmetrisch schönen Jahrhunderthalle (Candida Höfer) und fast abstrakten Bildern von Halden (Jitka Hanzlová); mit kargen Blicken auf eine verblichene Tapete; man sieht noch die Spur der Bilder, die hier einmal hingen (Laurenz Berges). „Berges erzählt spröde Geschichten“, sagt Thomas Weski, Kurator der Schau, „es sind Bilder der Abwesenheit.“

Nicht ohne Stolz berichtet er, dass alle Künstler spontan bereit waren, für die Schau zu arbeiten. „Im Ruhrgebiet sind die Veränderungen der Zeit sichtbar“, sagt er, „das muss Fotografen reizen.”

Die Arbeiten sind so zueinander in Bezug gesetzt, dass ihre Vielfalt sich überwältigend erschließt. Jeder Künstler präsentiert sich in einer Box, einem weißen, vorn und oben offenen Gehäuse im Innern des SANAA-Gebäudes. Doch dieser merkwürdige Kubus hat seinen eigenen Reiz, er entsteht durch die 134 unregelmäßig gesetzten Fenster; „die Hülle ist selbst ein Kunstwerk, das muss man ernstnehmen“, sagt Weski. „Die Blicke aus den Fenstern, diese gerahmte Sicht in die Wirklichkeit steht in Konkurrenz zu den Fotos.”

Magisches Chaos

Die haben ihre eigene Kraft. Thomas Struths Blick auf die Gladbecker Petrochemie zeigt magisches Chaos. Ganz anders dramatisch sind die Bilder von Andreas Gursky; aus der Kaue in Hamm macht er eine düstere Farbkomposition, einen stillen Höllen-Brueghel. Und in Dortmund fotografierte er BVB-Fans in der Südkurve; die eindrucksvolle Menge montierte er am Computer zu unglaublicher Höhe: fantastisch, aber un-wahr. „Fotos dürfen lügen”, sagt Gursky. Seine Bilder behaupten Dokumentation, doch sie zeigen, was hinter den Fakten liegt. Den Sinn.

Neue Bilder vom Ruhrgebiet: Eine Hochglanz-Freuden-Schau hat niemand erwartet. Künstler suchen die Wahrheit hinter den Bildern, auch hinter den hässlichen, und manchmal entdecken sie Schönheit, die sich im Foto erst offenbart. Die Westfalenhütte; was von ihr übrigblieb, als die Chinesen sie abmontiert hatten - auf dem Foto von Matthias Koch wirken die Fundamente wie ein anderes Troja. „Wie Industrie-Archäologie“, sagt Weski. „Und das ist es ja vielleicht auch.“