Bonn. .

Wie bringt man die junge Frau dazu, sich Waschmittelflaschen unters Kleid zu stopfen? Wie bekommt man Bank-Manager dazu, mit Spargelstangen in den Nasenlöchern zu posieren? Sie wollten eine von Erwin Wurms „One Minute Sculptures“ sein - zu sehen in einer Ausstellung in Bonn.

Dem Künstler der Ein-Minuten-Skulptur, dem Plastiker von Neid- und Ärgerbeulen, dem Podestschubser, dem Verdreher von Wahrheiten, mit einem Wort: Erwin Wurm ist eine Ausstellung in Bonn gewidmet.

Wie bringt man die junge Frau dazu, sich Waschmittelflaschen unters Kleid zu stopfen? Womit überredet man den Bank-Manager, mit zwei Spargelstangen in den Nasenlöchern zu posieren? Und wie lockt man einen Theater-Intendanten mit nacktem Oberkörper ins eigens ausgehobene Erdloch?

Das sei gar nicht schwierig gewesen, bemerkt Erwin Wurm. Im Gegenteil. Als die Sache erst einmal angelaufen war, hätten ihn die Leute kaum mehr in Ruhe gelassen: Alle wollten sich als »One Minute Sculpture« verewigt sehen. Doch mit dem Run kam auch schnell das Ende. Wurm verlor die Lust und legte den Werk-Komplex 2007, nach zehn Jahren, ad acta.

Nasebohren, Zunge zeigen, Hand in den Hosenschlitz stecken

Es sind wohl vor allem die Fotos jener schrägen Ein-Minuten-Skulpturen, die den 1954 geborenen Österreicher bekannt gemacht haben. Wahrscheinlich werden sie ihm sein Künstlerleben lang nachhängen. Auch weil die Idee dank ihrer originellen Eingängigkeit mühelos den Weg aus dem engen Kunstkreis hinaus in ein Video der Red Hot Chili Peppers gefunden hat. Im Bonner Kunstmuseum füllen die Fotos der Mini-Performances nun einen halben Ausstellungssaal. Das Petersburger Drunter und Drüber macht klar: Wurm hat die Fotos als Dokumente, nicht als Kunstwerke gedacht.

Erwin Wurm - Liquid Reality, Ausstellung im Kunstmuseum Bonn. Erwin Wurm: Untitled Hamlet, 2007. © VG Bild-Kunst, Bonn 2010
Erwin Wurm - Liquid Reality, Ausstellung im Kunstmuseum Bonn. Erwin Wurm: Untitled Hamlet, 2007. © VG Bild-Kunst, Bonn 2010

Um die absurde Bildergalerie voller kleiner Peinlichkeiten herum hat Museumsleiter Stephan Berg zusammen mit dem Künstler eine konzentrierte Werkschau arrangiert. Sie fängt Wurms Schaffen der vergangenen rund 20 Jahre in treffenden Beispielen ein – Belege eines eigenwilligen, originären und überaus weit gefassten Skulpturbegriffs. Eigentlich kann bei Wurm alles zur Skulptur werden, selbst gezeichnete oder geschriebene Handlungsanweisungen. Nasebohren, Zunge zeigen, Hand in den Hosenschlitz stecken.

Lange Unterhosen für die Mülltrennung

Wer einen pointensicheren Unterhaltungsparcours erwartet, wird nicht enttäuscht. Wer auf mehr hofft, aber ganz bestimmt auch nicht. Es ist, als würde uns Wurm mit seinem absurden Witz an die Hand nehmen. Als wolle er durch den attraktiven, heiteren, leicht verständlichen Einstieg in sein komplexes Werk locken, das sich im Überblick wie ein Forschungsprojekt zum Thema Skulptur ausnimmt.

Nach Anfängen mit Staubskulpturen, die ihre Formfindung dem bestäubten und dann entfernten Gegenstand verdanken, entdeckt Wurm Anfang der 90er Kleidungsstücke als skulpturales Material. Lange Unterhosen etwa: In einen umgedrehten Kasten gespannt, zur Mülltrennung dienend. Und noch lieber billige Pullis – der Kurator muss sie für jede Ausstellung nachkaufen, damit alles dem neuesten Schick entspricht. Dazu liefert Wurm »Instruction Drawings«: Zeichnungen, die Falttechniken vorgeben und zeigen, wie seine Objekte auf zwei Schrauben in der Wand drapiert werden.

Bezeichnend für Wurms bildhauerisches Spiel mit den textilen Überziehern ist auch das dralle Ding aus 18 Sweatshirts. Eins über das andere gezogen, halten sie sich schließlich selbst: Die Hülle als Skulptur. Das Thema hat Wurm seinerzeit auch filmisch behandelt. Im Video, wo ein junger Mann namens Fabio sich den gesammelten Inhalt seines Kleiderschranks überstreift. Nicht nach-, sondern übereinander. Kleidung, die doch eigentlich schützen und schmücken soll, macht unförmig und immobil. Am Ende kann der arme Kerl sich kaum mehr rühren, schaut aus wie ein fettleibiger Spross der Überflussgesellschaft.

Neid- und Ärgerbeulen, in denen sich das Innerste des Menschen nach außen wendet

»Jeder Mensch ist ein Künstler« – aus Wurms Mund könnte der berühmte Beuys-Spruch etwa so lauten: »Jeder ist Skulpteur des eigenen Körpers«. Von dieser Theorie ist es nur noch ein kleiner Schritt auf den raumfüllenden, weiß-glänzenden Riesensockel, wo jeder Besucher sich selbst unversehens in der Rolle einer Living Sculpture wieder findet, ob er will oder nicht. Und gleichgültig, ob er jene abgedrehten Mitmach-Skulpturen, die Wurm dort abgelegt hat, tatsächlich benutzt. Zeichnungen und handschriftliche Gebrauchsanleitungen sagen genau, wie es geht. Auf ein paar roten Gummibändern darf man die Nationalhymne spielen. Noch kniffeliger wird die Sache bei den neongelben Tennisbällen. Man soll sich so darauf platzieren, dass kein Körperteil den Boden berührt. Und dann auch noch eine Minute lang so verharren.

Wurm schubst das Schöne, Feierliche, Hehre vom Podest, und hievt stattdessen hinauf, was eigentlich nie dorthin gehörte: Mal sind es Peinlichkeiten oder Inkorrektheiten. Dann wieder interessiert den Künstler Verformtes, Verfettetes, Aufgeweichtes, Zerfließendes, Vollgestopftes, Angeschwollenes – vielleicht nicht zuletzt als Bild für die Hüllenhaftigkeit der sozialen Existenz. Auch kuriose Ausstülpungen kommen vor: Wurm spricht von Neid- und Ärgerbeulen, in denen sich das Innerste des Menschen nach außen wendet.

Was passiert, wenn das Haus plötzlich zerläuft wie Vanilleeis in der Sonne?

Bei all dem ist es sicher kein Zufall, dass einem beim Anblick seiner Werke alle möglichen Epochenphänomene in den Kopf kommen: Readymade, Objet trouvé, Performance, Konzeptkunst. Mal denkt man an Joseph Beuys und seine Soziale Plastik, dann an die Soft Sculptures von Claes Oldenburg oder an jene 15 Minuten Ruhm, die Andy Warhol schon in den 60er Jahren jedem zugestehen wollte. So spinnen die ironischen, grotesken, sarkastischen, manchmal auch melancholischen Kunstideen ihre Fäden fast spielerisch durch Kunstgeschichte und Alltag.

Erwin Wurm: Gedankentransmitter, 2007. © VG Bild-Kunst, Bonn 2010
Erwin Wurm: Gedankentransmitter, 2007. © VG Bild-Kunst, Bonn 2010

Mit irrwitzigen Handlungsanweisungen oder per Video festgehaltenen Hypnose-Aktionen auf freiem Feld lässt Wurm Fragen nach der Souveränität oder Mündigkeit der sozialen Existenz anklingen. Wie sehr beschränken uns eigentlich die schützenden Mäntel, Häuser, Hüllen? Und was passiert, wenn die Sicherheit schwindet, wenn das Festgefügte die Kontur verliert, wenn sich das Innere nach außen wendet, Dinge und Körper verschmelzen? Wenn das Haus plötzlich zerläuft wie Vanilleeis in der Sonne? Oder wenn das Auto in Schieflage gerät, wie ein Comic-Wagen mit Vollgas in der Kurve?

Die Realität der Wahrheit ist die kollektive Dummheit

In seinem Video »Tell« spinnt Wurm das Gedankenspiel 2008 weiter. Da lässt er ein Paar bei der Autofahrt durch Wien über dies und das plaudern. »Was wäre«, fragt die Fahrerin, »wenn man, während wir unser Sandwich essen, plötzlich feststellte, dass wir das Sandwich sind, und das Sandwich sich in uns verwandelt hat? Was wäre, wenn die Katze nur zufällig genau da zwei Löcher in ihrem Pelz hat, wo ihre Augen sitzen.« Und die Frau am Steuer kommt zu dem Ergebnis: »Die Realität der Wahrheit ist die kollektive Dummheit, weil Wahrheit nicht existiert, sondern durch uns gemacht wird. Das ist es. Es ist so einfach.«

Stefanie Stadel: Aufgedunsene Autos, eine Gewürzgurke als Selbstporträt, Claudia Schiffer mit einem Besen – solche Skulpturen bringen das Publikum zum Lachen. Ist das eine Reaktion, die Ihnen gefällt? Oder stört Sie die Heiterkeit?

Erwin Wurm: Ich kann sie nicht verhindern, aber mir geht es natürlich nicht darum. Manchmal kommt es einem anfangs vor wie ein Scherz. Nachher dringt man immer tiefer vor zu den Hintergründen – dann hört man auf zu lachen. Ich nenne diese Methode zynische Kritik.

Kritik an gesellschaftlichen Gegebenheiten – es scheint, als sei dieser Gedanke in Ihrer Kunst nicht immer da gewesen. Durch was sind Sie auf solche Fragestellungen gestoßen?

Erwin Wurm: Ursprünglich wollte ich einmal Malerei studieren, doch hat man mich dort nicht aufgenommen. Ich wurde in die Bildhauerklasse gesteckt. Das war so üblich. Dort habe ich erst einmal damit begonnen, mich zu fragen: Was ist eigentlich Skulptur? Was kann sie heute, also damals in den 70er Jahren, noch leisten? Bildhauerei ist Arbeit am Volumen. Zu- und Abnehmen ist in gewisser Weise auch Arbeit am Volumen. Also kann man den Schluss ziehen: Zu- und Abnehmen ist Bildhauerei und schon steckt man im sozialen Kontext von Konsum, Überfluss und Verfettung. Auf diese Weise sind die gesellschaftlichen Themen wie von selbst in meine Kunst gekommen.

Später nehmen Sie doch auch den umgekehrten Weg. Da gehen Sie nicht vom Spiel mit Masse, Volumen und Oberfläche aus, sondern von gesellschaftlichen Phänomenen unserer Zeit.

Erwin Wurm: Ja, der Hype unserer Zeit, die Ikonen der Moderne. Ich suche immer wieder nach Möglichkeiten, sie bildhauerisch zu bearbeiten. So habe ich etwa das Guggenheim-Museum schmelzend gemacht oder ein Mies van der Rohe-Haus zerlaufen lassen.

Wenn es um Ihren künstlerischen Background geht, wird gelegentlich auf den Wiener Aktionismus hingewiesen. Auch wurden in Ihren Werken schon Parallelen zum Surrealismus gesehen. Was sagen Sie dazu?

Erwin Wurm: Mit beidem habe ich wenig zu tun. Diese Strömungen haben immer die große Geste, den großen Auftritt, das Theatralische gesucht. Das ist bei mir etwas ganz anderes. Mich interessiert das Marginale, das Kleine, das Gemeine.

Gibt es andere Traditionen, denen Sie sich irgendwie verbunden fühlen.

Erwin Wurm: Natürlich kenne ich die Kunstgeschichte. Aber direkte Anknüpfungspunkte könnte ich nicht nennen. Wahrscheinlich ist es auch so: Je älter man wird, desto mehr konzentriert man sich auf das, was man vor sich hat. Da kocht man sein eigenes Süppchen, wird immer autonomer.

Text: Stefanie Stadel.

Erschienen in: K.WEST, Ausgabe April 2010.

Erwin Wurm: Liquid Reality, bis 6. Juni, Kunstmuseum Bonn. Künstlerbuch im DuMont-Verlag, 35 Euro.