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Der neue Roman von Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison spielt in einer Zeit, in der der Sklavenhandel frisch erfunden ist. Mit „Gnade“ hält die Afro-Amerikanerin ihrem Land die Vergangenheit wie einen Spiegel vor. Dass ihre Botschaft nicht wie eine Keule wirkt, liegt an ihrer virtuosen Erzählkunst

Die 79-jährige afro-amerikanische Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison versteht sich auf einen Kampf, der vorgibt, keiner zu sein. So kommt auch ihr neuer Roman, „Gnade”, ohne plumpes Moralisieren aus; sie lässt die fiktiven Dramen im historischen Delaware des Jahres 1682 für sich sprechen.

Der Sklavenhandel ist frisch erfunden. Der Farmer und Geldverleiher Jakob Vaark nimmt von einem Schuldner das schwarze Mädchen Florens in Zahlung. Sie ist somit die vierte Frau auf seiner Farm in Milton: Rebekka ist Jacobs Ehefrau aus England, eine bestellte Braut. Die Indianerin Lina dient Rebekka, auch als Freundin. Sie wurde von Jakob als Waisenkind aufgenommen, ebenso wie das leicht verrückte weiße Mädchen Sorrow.

Die Wildnis in uns selbst

Die Farm gleicht einer Oase der Menschlichkeit; die so wenig religiösen wie politisch engagierten Vaarks scheinen die denkbar gutherzigsten Wesen. Jedoch erkennt Lina in der Abkapselung der Scheinfamilie früh eine Gefahr: „Ob Baptisten oder Presbyterianer, ein Stamm, das Militär oder die Familie, man brauchte irgendetwas Größeres, in dem man aufgehoben war.” Tatsächlich: Als Vaark stirbt, sind die Frauen auf sich gestellt.

Morrison hält ihrer Heimat, die doch erstmals einen schwarzen Präsidenten wählte und so stolz ist darauf, die Vergangenheit wie einen Spiegel vor. Dass die Botschaft der Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit eben nicht wie eine Keule wirkt, liegt an ihrer virtuosen Erzählkunst. Auf wenigen Seiten entwirft sie in poetischen Tönen die Biografien der Frauen, verwirbelt Zeiten und Perspektiven zur vielstimmigen Erzählung.

Das Buch beginnt mit einem Brief, dessen Autorin wir später als Florens erkennen. Sie berichtet von der Wildnis, die um sie und ihr herrscht, von einer blutigen Tat und einer großen Liebe und einem ewigen Schmerz. Warum hat ihre Mutter sie freiwillig fortgegeben? Liebte sie sie nicht? Diese Frage nagt an ihr. „Mutterhunger” nennt Morrison „das Verlangen, Mutter zu sein oder eine zu haben”, es ist ihr die eigentliche Antriebskraft allen Handelns und damit aller Historie. Man muss dieser radikal maternalistischen Sicht nicht folgen, um am Ende – wenn Florens’ Mutter das Wort an uns richtet, sich darin selbst richtet – tief berührt das Buch zu schließen.