Paris/Mailand.

Demütig ergeben sinkt Mailand vor ihr auf die Knie. Verrückte Modewelt: Für Anna Wintour, schillernde Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“, verlegten selbst namhafte Designer ihre Shows. Jetzt stehen die Prêt-à-Porter-Schauen an der Seine an - und Paris will Contenance bewahren.

Weil es Anna Wintour, schillernde Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“ gefiel, wider Erwarten doch nur drei Tage in Mailand zu bleiben, brach der sorgfältig zusammengesteckte Terminplan plötzlich in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Selbst bei Nobel-Marken wie Dolce & Gabbana, Armani und Prada hatten sie kalten Schweiß auf der Stirn und verlegten ihre Defilees rasch vor. Hauptsache die große Anna Wintour sitzt in der ersten Reihe.

Nun, da der internationale Modetross für die Prêt-à-Porter-Schauen Herbst/Winter 2010/11 an der Seine angelandet ist, stellt sich die aufgeregte Frage: Wird sich das stolze Paris vom Mailänder Virus anstecken lassen und in nervöse Hektik verfallen? Offiziell jedenfalls nicht. Paris, ganz im Bewusstsein immer noch die prachtvolle Welthauptstadt der Mode zu sein, bewahrt die Contenance und hebt demonstrativ das Kinn. Man könne das Programm doch nicht von einer einzelnen Person abhängig machen, ließ Didier Grumbach, der Präsident des französischen Modeverbandes, am Vorabend der ersten Defilees mitteilen.

Wintour gilt als mächtigste Persönlichkeit der Modebranche

Anna Wintour, der charismatischen Vogue-Chefin, ist der laute Rummel um ihre Person bestens vertraut. Während das internationale Publikum in erster Linie Modeschöpfer wie Karl Lagerfeld und Jean-Paul Gaultier, Giorgio Armani und Vivienne Westwood als die Stars am Laufsteg erachtet, gilt in Wirklichkeit Anna Wintour als die mächtigste Persönlichkeit der internationalen Modebranche.

Seit über 20 Jahren an der Spitze der US-Vogue entscheidet die gebürtige Londonerin maßgeblich über Farben und Schnitte, Trends und Karrieren im Modebusiness. Gebannt verfolgt die Modewelt die Urteile aus der eleganten Feder der soeben 60 Jahre alt Gewordenen. Selbstverständlich legen die Designer allergrößten Wert darauf, dass sie zu ihren Schauen kommt. Hebt sie, die stets von ihrem Chaffeur vorgefahren und am Catwalk auf dem besten Platz in der ersten Reihe platziert wird, anerkennend den Daumen, können die Couturiers jauchzend die Champagnerkorken knallen lassen. „Anna Wintour ist nicht die Hohepriesterin der Mode, sondern der Papst“, urteilt ihre ebenfalls einflussreiche Kollegin und Kreativ-Direktorin Grace Coddington (68).

Wintour, Tochter eines britischen Blattmachers, hat ihr Magazin zu einer Modebibel geformt. Die „September-Ausgabe“ der Vogue, so auch der Titel eines packenden Dokumentarfilms über das Innenleben der Modezeitschrift, ist mit bald 800 Seiten so dick wie die „Gelben Seiten“ von Manhattan. Der Hollywood-Spielfilm „Der Teufel trägt Prada“ mit Meryl Streep in der faszinierenden Rolle der exzentrischen und launischen Chefredakteurin Miranda Priestly, ist eine weitere Hommage an Anna Wintour. Längst ist sie zu einem genauso glamourösen Star aufgestiegen wie die Designer und ihre atemberaubenden Models, über die sie schreibt. Der Pagenschnitt, die schwarzen Gläser ihrer Sonnenbrille und High-Heels sind ihre Markenzeichen. Branchenkenner berichten übereinstimmend, die Wintour noch nie in Hose gesehen zu haben. Stets erscheint sie in stilvollen edlen Kostümen oder engen Röcken, bevorzugt aus den schicken Prada-Ateliers. Erst wenn sie am Laufsteg ihren Platz eingenommen hat, auch bei Verspätung, darf das Spektakel beginnen.

Waschbär auf dem Teller

Wer sie nun vorschnell als kaltblütigen und unberechenbaren Fiesling abstempeln möchte, zeichnet jedoch ein verzerrtes Bild. „Ich liebe talentierte kreative Leute und ihre Arbeit“, umschrieb sie einmal in einer US-Talkshow ihr leidenschaftliches Credo für Professionalität in der Modebranche. Ferner beweist die Mutter von zwei Kindern bei solchen Anlässen, wie schlagfertig sie sein kann. Als der bekennenden Pelzliebhaberin bei einem Dinner von militanten Tierschützern ein toter Waschbär auf dem Teller drapiert wurde, soll sie – ganz gelassene Britin – in Seelenruhe erst eine Serviette darüber gelegt und dann einen Espresso bestellt haben.