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Ob Tränen, Schreie oder Krämpfe: Was schreckt Zuschauer von Reality-Shows heute noch ab? Die Lust aufs Leid bringt Einschaltquoten - wie Solitary bei ProSieben. Medienpsychologen wundern sich, dass diese Strategie immer noch funktioniert.

Der Spaß an der Erniedrigung ist ungebrochen. Wenn sich die abgehalfterte Pseudoprominenz mit den Tücken inszenierter Ferkeleien herumschlägt, giggeln Millionen vor den Fernsehgeräten, weil der Abend für sie offenbar nichts Spannenderes bereithält oder die eigene Misere die Lust aufs Leid der Anderen befeuert. „Es erstaunt mich auch, dass das nach so vielen Jahren immer noch funktioniert”, bekennt der Medienpsychologe Professor Jo Groebel.

„Die Spirale braucht nur eine weitere Drehung.” Pro 7 hat geschraubt und drangsaliert derzeit neun Menschen, die offenbar verzweifelt um Wahrnehmung ringen, an jedem Samstagabend in der Show „Solitary”. Die Kandidaten, überwiegend dem Auffangbecken für Fernsehexistenzen entnommen, die schon durch andere Sendungen zweifelhafter Couleur gerauscht sind, sitzen isoliert für maximal zehn Tage in je acht Quadratmeter großen Kapseln und sind bereit, sich auf Befehl mit Übungen zum Hampelmann zu machen. Bis sie aufgeben.

Schlafentzug zur Einstimmung

Das fängt mit Gymnastikspielchen und Schlafentzug zur Einstimmung harmlos an, doch die kurzen Einspieler zum Anfüttern für die nächsten Folgen zeigen bereits, dass die erste Sendung für sadistische Gemüter allenfalls ein Aperitif war: Ab heute erwarten uns übel zugerichtete Füße, Tränen, Schreie, Krämpfe. Es geht nicht darum, an die Grenzen zu gelangen, sondern die Probanden dieser Versuchsanordnung darüber hinaus zu locken - sonst könnte man ja auf die Tour de France umstellen. Für manchen dürfte es zwar schon die Hölle auf Erden sein, von einem Moderatoren-Imitat wie Sonya Kraus vorgestellt zu werden. Aber es kommt wohl noch schlimmer.

Sucht nach Aufmerksamkeit verdrängt Angst vor Blamage

Auch er ließ sich für die Zuschauer quälen: Costa Cordalis meisterte alle Ekel-Prüfungen und wurde so zum Dschungel-König gewählt. Foto: imago
Auch er ließ sich für die Zuschauer quälen: Costa Cordalis meisterte alle Ekel-Prüfungen und wurde so zum Dschungel-König gewählt. Foto: imago

Da sich die Grenzen des Peinlichkeitsempfindens in den letzten zehn Jahren bereits massiv verschoben haben, weil die Sucht nach Aufmerksamkeit die Angst vor der Blamage verdrängt hat, langt lustig nicht mehr. Man muss mit Härte Eindruck machen, um das Publikum bei Laune zu halten. 1,23 Millionen zwischen 14 und 49 sahen dem zähen Treiben vergangenen Samstag zu. Groebel, Direktor des Deutschen Digital Instituts in Berlin und zuvor an der Spitze des europäischen Medieninstituts, gehört nicht zu den Predigern, die das Privatfernsehen in Gänze verdammen mit seiner exzessiven Lust, die niedrigsten Sensorien beim Zuschauer anzusprechen.

„Aber dass wir auf eine Sendung, in der Menschen letztlich ja gefoltert werden, nur noch mit einem Achselzucken reagieren, sollte uns zu denken geben.” Es sei bemerkenswert, dass die Debatte schon gar nicht mehr geführt würde. „Das Sadistische wird nicht mehr sozial geächtet, die Zuschauer wollen bei der Geburt und Hinrichtung von Helden dabei sein”, hatte der Schweizer Psychiater Mario Gmür in der FAZ bereits mit Blick auf das „Dschungelcamp” kritisiert. Pro 7 beruhigt mit dem Hinweis auf einen Psychologen, der aufpassen soll, dass niemand seelischen Schaden nimmt.

Die Grenze der Freiwilligkeit

Natürlich, so Groebel, werde keiner gezwungen, bei Gladiatorenkämpfen mitzumachen, und die Grenze der Freiwilligkeit werde das Fernsehen nicht überschreiten. „Aber der Hüter seines Bruders zu sein, ist ja kein schlechtes Prinzip für das Zusammenleben”, findet er. Das Publikum, das sich lieber als Nutzer denn als Hüter begreift und durch sein Interesse derart würdelose Spektakel erst ermöglicht, mag Groebel dennoch nicht beschimpfen. Es sei „sehr unterschiedlich zusammengesetzt”, bei Männern sei die hohe Aufmerksamkeit für bedrohliche Szenarien stärker ausgeprägt.

Wie verroht die Zuschauer sein können, zeigte im Frühjahr dafür die inszenierte Doku-Show zweier französischer Filmemacher. Kandidaten sollten in der Nachahmung eines berühmten Versuchs einen Menschen bei falschen Antworten auf Quizfragen mit vermeintlichen Stromschlägen foltern. Mehr als zwei Drittel machten mit. Es taugt freilich nur sehr bedingt als Nachweis für die Theorie, dass die Menschen durchs Fernsehen abstumpften. Das Original-Experiment über Autoritätshörigkeit und Gewaltbereitschaft stammt aus den 60-er Jahren. Einer Zeit, in der das Fernsehen seinen Zuschauern kaum Gröberes anbot als den Blauen Bock.