Bochum. .

Sie ist nicht gekommen, um zu singen. Jedenfalls keine Schlager. Nicht an diesem Ort, nicht an diesem Tag, an dem – 65 Jahre zuvor – das Konzentrationslager Auschwitz befreit wurde. Marianne Rosenberg will erinnern. An die Sinti und Roma, die ermordet wurden.

750 Besucher drängen sich in der Kirche. Ihr Eintritt war frei, aber sie mussten sich anmelden. Per E-Mail oder per Post. „Interessant war das“, sagt Thomas Wessel, Pfarrer der Christus-Kirche. „Viele Schreiben hatten so einen unglaublich warmen Ton.“

Nun sitzen sie da und warten. Warten auf die Frau, die viele von ihnen in den frühen 1970ern als Kinderstar kennengelernt haben. Mit der sie zu Liedern wie „Mr. Paul McCartney“, „Marleen“ oder „Er gehört zu mir“ die Nächte durchgetanzt haben. Und über die sie sich gewundert haben, als sie in den 1980er Jahren zur Ikone der Schwulenbewegung wurde und auf vielen Demonstrationen mitzog. In Highheels im „Schwarzen Block“.

„Sag, deine Vorfahren kommen aus Ungarn“

Marianne Rosenberg.
Marianne Rosenberg. © ddp

Dass die Frau, die gegen 20 Uhr grußlos die Bühne betritt und sich jeden Applaus verbittet, einer Sinti-Familie entstammt, das haben die meisten im Publikum lange nicht gewusst. Vor allem, weil die Rosenbergs es viele Jahre verschwiegen haben. „Sag, deine Vorfahren kommen aus Ungarn“, bläut Vater Otto seiner Tochter ein, als ihre Karriere beginnt. „Sonst kauft keiner mehr deine Platten.“ Und Marianne hält sich an diese Anweisung. „Viel zu lange“, sagt sie heute. Erst als Otto Rosenberg Vorstandsmitglied im Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wird und ein Buch über das Grauen der Nazi-Vernichtungslager schreibt, die er als einer der wenigen überlebt hat, da bekennt sich auch die Sängerin zu ihren Wurzeln. Erst leise, später lauter, bis heute nie aufdringlich. In ein paar Talk-Shows hat sie darüber geredet und ein Buch geschrieben, das „Kokolores“ heißt. Daraus liest sie in der Christus-Kirche – vor sich auf dem Tisch ein Glas Wasser, hinter sich den Schatten eines Kreuzes an der rot angestrahlten Wand.

Zwischendurch singt sie auch, singt den Klassiker „Nature Boy“ oder eine Eigenkomposition, die „Trauriger Stolz“ heißt. Begleitet wird sie dabei nur von Ferenc Snétberger, einem ungarischen Jazz-Gitarristen mit Roma-Vorfahren.

Eine Geschichte von Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung

Neben ihr sitzt ihre Schwester Petra. Sie liest ebenfalls. Aus „Das Brennglas“, dem Buch ihres Vaters. Es erzählt die Geschichte Otto Rosenbergs. Und damit auch die Geschichte der Sinti und Roma im Dritten Reich. Es ist eine Geschichte von Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung.

Irgendwann greifen sie ineinander, die Geschichten von Otto und Marianne. Weil die Tochter groß wird mit einem Vater, der die Nummer Z 6084 auf dem Arm tätowiert hat. Der sein kleines Mädchen nachts in verräucherten Berliner Kneipen singen lässt, weil ihre Stimme ihn an die seiner Mutter erinnert. Und der jedes Jahr zu Weihnachten weint, wie ein Schlosshund, weil ihm seine Eltern und Geschwister so fehlen, die in den Lagern der Nazis ermordet wurden. Selbst nach so vielen Jahren noch. „Wer sagt, die Zeit heile alle Wunden, der irrt.“

Auch in den 1960er Jahren sind Sinti und Roma nicht beliebt in der noch jungen Bundesrepublik. „Dreckige Zigeunerin“, rufen Mitschüler der jungen Marianne hinterher. Und wenn irgendwo etwas gestohlen wird, zählt sie stets zu den Hauptverdächtigen.

Ihren Vater wundert das kaum. Stets warnt er davor, dass sich das Schreckliche wiederholen könne. Seine Tochter glaubt das lange Zeit nicht. 2001 aber, kurz vor dem Tod Otto Rosenbergs, ritzen Unbekannte ein Hakenkreuz in die Haustür ihrer Eltern. Da weiß Marianne: Das Böse ist nicht tot. „Es hat nur geschlafen.“ Auch deshalb ist sie in die Christus-Kirche nach Bochum gekommen.

Mit Tränen in den Augen verabschieden sich die Schwestern nach zwei Stunden mit einer tiefen Verbeugung von den Zuhörern. Dann sind sie verschwunden – ebenso unauffällig, wie sie erschienen sind. Zurück bleibt ein sichtlich bewegtes Publikum.

Am 13. März will Marianne Rosenberg zurückkommen ins Ruhrgebiet. Dann soll sie in der Duisburger Mercatorhalle singen.

Sogar Schlager und Pop.