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Nobelpreisträgerin Herta Müller erzählte in der Essener „Lichtburg“, wie und warum ihr Roman „Atemschaukel“ entstand – und las daraus vor. Weit über 1000 Menschen hörten ihr zu.

Nein, man sieht ihr die Nobelpreisträgerin nicht an. Da kommt immer noch jene hochzarte Frau mit Vorliebe für schwärzestmögliche Kleidung auf die Bühne, die sie auch schon vor der Nachricht aus Stockholm war. Vielleicht hätte sich Herta Müller im Sommer 2009 noch nicht ganz so eilig wieder auf den Stuhl gesetzt wie am Mittwochabend in der Essener „Lichtburg“. Vielleicht hätte sie den langen, warmen Beifall von weit über 1000 Zuhörern noch ein wenig länger ausgekostet.

Damals, als gerade ihr fulminanter Roman „Atemschaukel“ erschienen war, als die Essener Edel-Buchhandlung „Proust“ und die nicht minder exzellente Literaturzeitschrift „Schreibheft“ mit ihr eine Lesung in der „Heldenbar“ des Grillo-Theaters vereinbart hatten: Die war rasch zu klein, die 80 Plätze ausverkauft, genau wie später die „Lichtburg” zu klein war für die heftige Kartennachfrage.

Dass sie zu groß sein könnte, dass sie mehr Raum und Resonanzen bieten könnte als für eine Dichterlesung gut ist – erwies sich als abwegige Sorge. Zumal es gar keine der gefürchteten Dichter-liest-vor-und-hält-sich-am-Wasserglasfest-Veranstaltungen wurde.

Müller erzählte von ihrer Mutter

„Schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr moderierte stattdessen eine ungewöhnlich intensive, ja intime Befragung. Sie umkreiste den Roman „Atemschaukel“, aus dem die Nobelpreisträgerin zwischendurch vorlas, sie brachte Herta Müller auch dazu, lebhaft von ihrer Mutter zu erzählen, die fünf Jahre im russischen Deportationslager verbracht hatte. Und war davon so geschädigt, dass sie noch ihre Tochter zu einem „Lagerkind“ machte: „Ich war immer zu dick angezogen, weil sie Angst hatte, ich könnte frieren. Ich durfte mir nicht die Zöpfe abschneiden, obwohl sie dünn wie Rattenschwänzchen waren – sie litt unter dem Trauma des Kahlscherens. Sie aß hektisch, oft im Stehen, im Gehen.“

Herta Müller wusste, dass sie eines Tages davon erzählen musste, aber sie wusste nicht, „wie man das zusammenkriegt.“ Schließlich gab e s den „Schreckpunkt“, an dem sie merkte, dass die Zeugen dieses Grauens allmählich wegsterben. Und schließlich fand sie in Oskar Pastior einen Zeugen, der geradezu übersprudelte vor Erzählungen aus dem Lager, die er jahrzehntelang verschwiegen hatte.

Aus Oskar Pastior war es herausgebrochen, als er mit Herta Müller im Auto durch einen Wald fuhr und die Schriftstellerin anfing, über Tannen zu schimpfen, jene Baumart, die schon fertig ist, wenn sie nur anfängt zu wachsen, langweilig von oben bis unten und nur deshalb zum Weihnachtsbaum geworden, „weil nichts anderes grün ist um diese Zeit”. Oskar Pastior fuhr ihr vehement in die Parade – und erzählte bewegt, wie er sich im Lager aus grünen Wollhandschuhen und Draht ein Tannenbäumchen gebastelt hat, das „sein Strohhalm war, „seine Verbindung zur Zivilisation”.

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