Essen. Wunden, Wunder, wundern - das Literaturgebiet Ruhr entfaltet neue Blüten und bekämpft entschlossen den Mauerblümchen-Blues. Über Versprechen an die Zukunft und Dinge, die man herbeireden muss, damit ein Wunder möglich wird diskutieren Experten auf einer Fachtagung.

Das Wunder wärmt sich die Hände an einer Schale Milchkaffee. Ivette Vivien Kunkel schaut aus dem Fenster des Bochumer „Café Konkret”, hinaus auf die Fußgängerzone. „Was ist das für ein Konzept: Heimat?”, heißt es in ihrem Text „Alles überall”, eine Art Antwort könnte dieser Satz sein: „Ich in Moskau ist ich in Paris ist ich in Tokio ist ich in Chicago ist ich in Bombay ist ich in Shanghai.” Der Text gewann im vergangenen Jahr den Preis der Literarischen Gesellschaft Bochum. Im Sommer nahm die 30-Jährige teil an einem Workshop beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb. Der erste Roman ist bereit für einen Verlag. An diesem Punkt zieht es Jungschriftsteller aus Köln, Paderborn oder Todtmoos nach Berlin. Ivette Vivien Kunkel wohnt in Witten.

Gerne.

Damit dient sie dieser Geschichte als lebendiges, braunäugiges Beispiel für das „Literaturwunder Ruhr”.

Aufgeblähte 2010-Euphorie

Wunder-Tagung

Sozialstrukturwandel

Zur Fachtagung „Literaturwunder Ruhr" laden ein: die Bochumer Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets, das Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, die Literarische Gesellschaft Bochum, das Germanistische Institut der Ruhr-Universität Bochum. Themen sind, natürlich, der Sozialstrukturwandel, Migrationserzählungen, Heimat-, Pop-, Jugend-Literatur.

Unter diesem Titel beginnt heute eine Tagung, zu der gleich vier Institutionen einladen. Und es ist tatsächlich eine kleine Sensation, wie es den einst so schwer schuftenden Wörtern im Revier gelang, die rote Fahne der Arbeitskämpfer zu tauschen gegen die Lupe der Verbrechensfahnder. Wie sie sich heute tapfer schlagen in Slam-Schlachten (2010 gastiert Europas größter Poetry-Slam in Duisburg). Wie sie sich in Burgfräulein-Schleier hüllen, in Ritterrüstungen die jüngsten Leser bezaubern. Wie sie sich gerade vor lauter 2010-Euphorie aufblähen, die Wörter „Kultur” und „Metropole” und „Hauptstadt” sich stolz recken. Das ist alles wunderbar – aber ist es schon ein Wunder?

Nein, sagt Ivette Vivien Kunkel nach langem Schweigen und Seufzen – dafür fühlt sie sich zu sehr allein auf weiter Flur, einsame Rose.

Nein, sagt Herbert Knorr, Leiter des Literaturbüros Unna und Erfinder des Festivals „Mord am Hellweg”: „Ich wüsste jetzt gerade nicht, worin das Wunder bestehen soll.”

Nein, sagt Krimi-Autor H.P. Karr und sagt noch: „Auch wenn das der Ast ist, auf dem ich sitze: Regionalkrimis wurden zwar im Ruhrgebiet erfunden, sind aber nicht die Zukunft.” Sondern? Antwort Karr: „Der Familienroman, der historische Roman – vor allem der so genannte In-Roman: die Päpstin, die Herrscherin.” Antwort Knorr: „Das Jugendbuch.” Antwort Kunkel: „Ich glaube, dass die Literatur jünger werden wird.” Auch durch die Literaturförderung, von der sie selbst profitierte.

Versprechen an die Zukunft

Und die, nach dem Willen der Literaturexperten des Reviers, weiter ausgebaut werden soll. So will der Bochumer Germanistik-Professor Gerhard Rupp das „Literaturwunder” verstanden wissen als „Versprechen in die Zukunft”. Am Wochenende werde das seit Ewigkeiten geforderte Europäische Literaturzentrum Ruhr diskutiert: „Man muss gewisse Dinge herbeireden. Ein Wunder ist ja etwas, an das man glauben muss.”

Ivette Vivien Kunkel glaubt vielleicht nicht an Wunder, aber an sich. Mit 23 gab sie das Studium auf, um sich einem Schreiben zu widmen, das „die Struktur der Sprache” zum Thema hat. Gewagt. Aber: „Ich hätte mich mein Leben lang dafür gehasst, wenn ich es nicht versucht hätte. Und es geht! Manchmal gibt es bei einem Preis 3000 Euro oder so, davon lebe ich vier, fünf Monate”. Es fällt der für Jungschriftsteller klassische Satz von der Nudeldiät an den letzten Tagen eines Monats. Und der reviertypische: „Die Monatsfahrkarte gönne ich mir, weil ich in Witten lebe.”

Fußgängerzonenprovinz

Die Fahrkarte reicht nicht: bis Berlin, wo sich Verlage zur Landschaft zusammenfügen und Bühnen zum Silbertablett unter der Nase von Talentsuchern. Wo es keine Fußgängerzonen gibt. „Ich musste in Klagenfurt feststellen, dass dieses Wort reicht, um Nicht-Berliner Autoren zu identifizieren.” Um sie zu orten: in der Provinz. Warum macht sie uns das unverhoffte Geschenk des Bleibens? „Weil ich das Ruhrgebiet ganz für mich habe.”

Ein Scherz, ein halber. Tatsächlich bedauert sie: „Es gibt keine Aufenthaltsstipendien für Autoren im Ruhrgebiet.” Der Castrop-Rauxeler Stadtschreiber streift durch die Fußgängerzonen der Metropole Ruhr – das wäre wunderbar.