Berlin. Der Roman Grenzgang ist das erstaunliche Debüt von Stephan Thomes. Hier schreibt einer, der das Leben mit seinen vielfältigen Verletzungen kennt. Wer die Realität nicht langweilig findet, nur weil sie wahr ist, bekommt viel davon geboten.
Als Stephan Thome, 37, bei Suhrkamp in Berlin las, saß am Tisch ein jung wirkender Mann mit den wissenden Augen eines Kindes, das graue Haare hat. Ein genetisches Erbe, aber auch symbolisch für diesen Autor. Wer seinen Roman liest, ein furioses Werk zur Geschlechterproblematik unserer Zeit, stockt manchmal und fragt sich: Woher weiß der junge Mann das alles? Wie kann er Details und vor allem Gefühle so gut schildern, als habe er sie in einem langen Leben viele Male erlebt und durchlitten? Ein Debüt von solcher Reife hat es in der deutschsprachigen Literatur lange nicht gegeben. Hier schreibt einer, der das Leben mit seinen vielfältigen Verletzungen kennt. Das hat er punktgenau platziert vor dem Hintergrund der derzeitigen gesellschaftlichen Situation, mit Arbeitslosigkeit für Akademiker, seriellen Beziehungen und Scheidungen, schwieriger Teenagerbegleitung und trotzdem fortwährender Jagd nach dem Glück.
Von Liebe und Einsamkeit, Schuld und Sühne
Deutscher Buchpreis 2009
Die Finalisten für den Deutschen Buchpreis 2009 stehen fest.
Auf der Shortlist stehen:
- Rainer Merkel mit "Lichtjahre entfernt" (S. Fischer, März 2009)
- Herta Müller mit "Atemschaukel" (Hanser, August 2009)
- Norbert Scheuer mit "Überm Rauschen" (C. H. Beck, Juni 2009)
- Kathrin Schmidt mit "Du stirbst nicht" (Kiepenheuer & Witsch, Februar 2009)
- Stephan Thome mit "Grenzgang" (Suhrkamp, August 2009)
- Clemens J. Setz mit "Die Frequenzen" (Residenz, Februar 2009)
Verliehen wird der Deutsche Buchpreis am 12. Oktober im Kaisersaal des Frankfurter Römers. Der Sieger erhält ein Preisgeld von 25 000 Euro.
Thomas fühlt sich in Berlin zu Höherem auserkoren, doch seine Karriere als Historiker scheitert. Er flieht aus der Stadt, verlässt seine überlegen-spöttische Geliebte, kehrt nach Bergenstadt an der Lahn zurück. Dort wird er Gymnasiallehrer, ein Schüler seiner Klasse ist der 16-jährige Daniel, Sohn von Kerstin. Die ist noch nicht lange alleinerziehende Mutter, gerät immer neu in Konflikt mit dem Pubertierenden und versorgt nebenher noch mit hohem Zeitaufwand ihre demenzkranke Mutter. Wer die Realität nicht langweilig findet, nur weil sie wahr ist, bekommt in dem Roman viel davon geboten.
Liebe und Einsamkeit, Schuld und Sühne. Was archaisch anmutet, ist ganz real im Unterbewusstsein des Menschen, eines verhältnismäßig jungen evolutionären Geschöpfs. Kerstin wurde aus ihrer Ehe mit einem Rechtsanwalt, dem Vater von Daniel, plötzlich herausgehebelt. Der Einserjurist, der alles sehr genau nahm, nur nicht die eheliche Treue, hatte eine 20-Jährige geschwängert, sein Verlangen nach Frischfleisch war stärker als seine Ethik.
Das Leben genau beobachten
Es ist nicht dieser Umstand, der beim Lesen erschrickt, solches findet täglich irgendwo statt, sondern die Genauigkeit, mit der Thome das Leben einer sitzen gelassenen Mutter – bis hin zum allmonatlichen finanziellen Hindernislauf – beschreibt. Auf Anfrage erzählt er, dass er genau beobachte.
Zwei Menschen in den Vierzigern, die Erfahrungen haben, aber einsam sind. Bergenstadt „Grenzgang“-Fest in jedem Sommer führt sie zusammen. Kerstin hat sich mehr oder weniger in ihre Lage geschickt, ist sogar bereit, mit einer Freundin aus dem Dorf einen Swingerclub bei Frankfurt zu besuchen, um überhaupt noch mal Erotik und vielleicht Sex zu finden. „Und Tage gibt es, da glaubt sie den Verstand zu verlieren, wie im Handumdrehen, als hätte sie nie einen besessen.“
Dass sie auf dem schlüpfrigen Parkett ausgerechnet auf Thomas trifft, den Lehrer ihres Sohns, führt zum Schock, wird aber hingenommen. Man vereinbart Schweigen. Thomas war dort, weil eine Internet-Bekanntschaft ihn darum gebeten hatte. „Ein Spiel für Verlierer“, hat er erkannt, „aber besser als Einsamkeit.“ Die Annäherung der beiden ist nun unaufhaltsam, die Zuneigung wächst, doch sie machen es sich nicht leicht. Die Frau schließlich wagt den entscheidenden Schritt, nachdem er ihr heimlich Veilchen vor die Tür gelegt hat. Aber ob es sich um ein Happy-end handelt, bleibt offen.
Spannung wird strapaziert
Was an dem Buch ungemein gefällt, ist die Genauigkeit, mit der diese zwei Menschen, beide mit dem Rücken zur Wand und vom Leben frustriert, geschildert werden. Wie leicht ist es, in die Depression abzurutschen, aber weiter zu funktionieren. Wie schwer ist es, zielgerichtet zu handeln, selbst wenn man es will. Die Gefühle funken dazwischen, das reduzierte Selbstwertgefühl blockiert, Ängste setzen sich drauf. Beide müssen cool sein, obwohl sie es gar nicht wollen. Aber die emanzipierten Rollen erfordern es. Thome, im hessischen Biedenkopf aufgewachsen, hat das präzise erfasst.
Dieser Roman hat eine Schwäche: er ist zu lang geraten. Stephan Thome, der als Sinologe in Taiwan arbeitet, hat mehrere Jahre daran geschrieben. Dass ist seinem schönen Sprachstil zugute gekommen, aber die Spannung wird mitunter zu arg strapaziert. Dennoch: kraftvolle Literatur, wirklichkeitsgesättigt, berührend.
Stephan Thome: “Grenzgang.” Suhrkamp, Frankfurt 2009, 454 S., 19,90 €