Moers. Im Musical-Theater von Damian Popp steckt George Bernhard Shaws Blumenmädchen im Abwasserkanal. Warum der schräge Abend sehenswert ist.
Eigentlich müsste es bestialisch stinken, aber es wabern nur geruchsneutrale Nebel: Aus der Bühne des Schlosstheaters ist ein gewaltiger weißer Abwasserkanal (Bühnenbild/Kostüme: Tanja Maderna) geworden. Das Blumenmädchen Eliza Doolittle (Maditha Dolle), die unter einem Wartungsdeckel ihren Beutel mit Papierblumen hervorkramt, stammt tatsächlich aus der Gosse. Und aus diesem Morast, zu dem der sich entleerende Higgins-Freund Pickering (Leonardo Lukanow) noch kurz seinen Beitrag leistet, möchte sie raus.
„Pygmalion – My Fairest Lady“ im Schlosstheater Moers: „Higgins ist phänomenal“
Nach seinem Moers-Debüt mit der Uraufführung von Rosa von Praunheims Groteske „Zwei Fleischfachverkäuferinnen“ hat sich Damian Popp nun George Bernard Shaws Schauspiel „Pygmalion“ vorgenommen, dessen Musical-Adaption „My Fair Lady“ ungleich bekannter sein dürfte als die Vorlage. „My Fairest Lady“ heißt es im Untertitel. Diese Dame soll schöner als schön werden.
Der selbstherrliche Phonetik-Professor Henry Higgins (Ludwig Michael), ein gestriegelter Laffe, ist Eliza begegnet, die optisch und hörbar der untersten Klasse angehört. Er bietet Pickering eine Wette an. In sechs Monaten will er Eliza in die besten Kreise „einschleusen wie das Pferd durch Trojas Tor“. „Higgins ist phänomenal“, besingt er sich zur Musik von Jonas Schilling, und „ich mach ne Herzogin aus dieser Gassenschlampe“. Um das Schicksal der jungen Frau geht es ihm nicht, sondern allein um den Erfolg seines Projekts. Eliza macht die Sprachschulungen und Artikulationsübungen bereitwillig mit. Wer an sich arbeitet, das glaubt sie fest, kann es ganz nach oben schaffen. Und entscheidend ist nicht, was man sagt, sondern wie man sich ausdrückt, wenn man nichts zu sagen hat.
„Ich hasse Small Talk“, ereifert sich zwischendurch die lispelnde, klare Worte schätzende Mutter (Joanne Gläsel) von Higgins, der offenbar selbst dem zumindest sprachlichen Prekariat entstammt. Irgendwann sieht Eliza nicht mehr ein, dass in einer klassenlosen Gesellschaft noch immer soziale Herkunft und Bildung entscheidend sind. Warum soll nur sie sich „maximieren“, wenn die bestimmende Klasse selbst zu keinen nennenswerten Änderungen bereit ist?
„Pygmalion – My Fairest Lady“: die 135 Minuten im Schlosstheater Moers vergehen wie im Flug
Den weißen Abwasserkanal als Projektionsfläche für Laserspiele, Filme, Bilder und sogar Live-Video-Chats (köstliche Auftritte von Matthias Heße) nutzend, machen Popp und seine Mitstreiter aus dem Schauspiel mit viel Musik ein schrilles, an Subtext reiches Spektakel voller Absurditäten und intelligenter Verrücktheiten, dessen Kernthemen vor allem in den Songtexten zum Ausdruck kommen. Das ist nicht ganz so schräg, so hinreißend schrill wie bei den „Fleischfachverkäuferinnen“. Und die sich nah an der Schmerzgrenze einpegelnde Lautstärke dient nicht immer der Verständlichkeit. Doch die 135 pausenlosen Minuten vergehen wie im Flug.