Gelsenkirchen. Etikettenschwindel? Nur fast: Der neue Tanzabend im Musiktheater im Revier bietet Spannung mit zwei komplett unterschiedlichen Teilen.
Maurice Ravels „Boléro“ zählt zweifellos zu den Publikumslieblingen der klassischen Musik. Wer also seinen neuen Tanzabend „Boléro“ titelt, hat schon so gut wie gewonnen. So war denn auch die Premiere dieser Produktion der MiR Dance Company im Kleinen Haus des Musiktheaters im Revier auf Anhieb ausverkauft. Was das Publikum allerdings überwiegend zu sehen und zu hören bekam, hatte wenig mit Ravels berühmten Klängen zu tun. Ein kompletter Etikettenschwindel wurde der stürmisch gefeierte Abend dennoch nicht.
Denn zum Schluss erklang sie dann doch noch (vom Band), die lang erwartete Originalmusik mit ihrem eindringlichen Rührtrommel-Ostinato, ihren zunehmend lauter werdenden Bläsereinsätzen, ihrem ekstatischen Taumel und abrupten Zusammenbruch. Zwei Choreografien, zwei Handschriften, zwei ganz unterschiedliche Stimmungen – und ein begeisternder Abend.
Der Brasilianer Fernando Melo kreierte den verrätselten „Shadow Waltz“, ein geheimnisvolles Nachtstück. Sita Ostheimer titelte ihre Choreografie „Hasard & Boléro“ und setzte auf temperamentvolle Volksfest-Fröhlichkeit und Lebensfreude.
Eine Frau (Tanit Cobas) schläft auf einem Stuhl, den Kopf auf den Tisch gelegt. Erst ein, dann zwei Männer wecken sie auf, indem sich ihre Häupter wie Magneten anziehen. Andere tauchen auf, verschwinden wieder. Sie bewegen sich synchron, trennen sich, tanzen auf Tisch und Stühlen und vor allem mit den Wänden, die die Akteure ebenso geschickt bewegen wie die kreisrunde Drehbühne.
Kira Metzler, Yordi Yasiel Perez Cardozo, Dex van ter Meij und Joonatan Zaban tanzen Fernando Melos „Shadow Waltz“
Das Dunkel der Bühne und die schwarzen Kostüme der Tänzerinnen und Tänzer (Kira Metzler, Yordi Yasiel Perez Cardozo, Dex van ter Meij, Joonatan Zaban) geben der seltsam geheimnisvollen Stimmung in Melos Choreografie den passenden Rahmen. Die Bewegungen sind langsam und elegant abgezirkelt, die Menschen wirken schlafwandlerisch und trancehaft in einem unwirklichen Raum, in dem die Wände gefährlich eng mit den Menschen tanzen.
Hat sich das Publikum erst einmal hineingefunden in diese dunkle Atmosphäre mit dem absurden Geschehen, erlebt es Poesie und Magie. Die wird unterstützt von einer hypnotisch-meditativen Musik, unter anderem von Qasim Naqvi, Stars of the Lid und Christine Ott. An Ravels Hit denkt man auch bei den körperlichen und musikalischen Wiederholungen eher nicht. Hier heißt es: einfach schauen und staunen!
Auch das musikalische Prinzip des Komponisten Yehezkel Raz für die Choreografie „Hasard“ („Glücklicher Zufall“) von Sita Ostheimer erschließt sich hörend nicht ohne weiteres. Das Programmheft zumindest klärt auf: Raz’ Klavierstück spielt Themen aus dem „Boléro“ rückwärts, erkennbar sind sie so nicht mehr.
Ein gesprochenes Zitat von Maurice Ravel selbst bildet dann die Brücke zum „Boléro“, den Ostheimer als temperamentvolles, energetisches Fest choreografiert und weniger erotisch und orgiastisch auflädt wie einst die ikonografische Version von Maurice Béjart. Die Tänzerinnen und Tänzer (Camilla Bizzi, Yu-Chi Chen, Marie-Louise Hertog, Pablo Navarro Munoz, Hilla Regev Yagorov, Chiara Rontini, Urvil Shah) schwingen mit den Armen, stampfen mit den Füßen, klatschen in die Hände, springen und swingen kraftvoll. Einzelne treten immer mal wieder aus der Gruppe heraus, beobachten, feuern sich gegenseitig lautstark an, bis ein scheinbar chaotisches Durcheinander in sich zusammenbricht.
Stehende Ovationen vom Publikum.