Essen. Süffiger Selbstversuch von Menschen mit Vorbildfunktion: Wie Essens Schauspiel aus dem Kinohit „Rausch“ einen gefeierten Theaterabend macht.
Der Rausch ist irgendwann gewaltig – die Szenerie zunächst erstaunlich ausgenüchtert. Armin Petras lässt die Bühnen-Adaption von Thomas Vinterbergs Kinoerfolg „Rausch“ in der deutschsprachigen Erstaufführung am Essener Grillo-Theater im schlichten weißen Guckkasten spielen (Bühne: Julian Marbach). Die Vorbühne wird zum Klassenzimmer.
Und die Zuschauer im Theatersaal können gleich mal mitmachen, wenn Sportlehrer Tommy ein paar Aufwärmübungen verordnet. Bevor sich Tommy und seine Lehrer-Kollegen wenig später einer anderen Betätigung widmen, einem Alkohol-Experiment. Die Vier wollen der Theorie des norwegischen Psychologen Finn Skårderud folgen und mit 0,5 Promille im Blut einfach etwas geistreichere und leistungsstärkere Lehrer und Menschen sein. Bald kriegen alle nicht mehr genug – vom Besserfühlen und vom Alkohol. Wohin das führt, sieht man noch vor der Pause: Ein enthemmtes Männerballett, nackt bis auf die Unterhose, suhlt sich im Gefühl der neuen Leichtigkeit und in eimerweise Farbe.
Essens Schauspiel bringt Vinterbergs Kino-Hit „Rausch“ auf die Bühne
Mehr als 50 Filmpreise und den Oscar als bester internationaler Film hat „Rausch“ gewonnen, der den Alkoholkonsum weder verteufelt, noch bagatellisiert. Die niemals moralinsaure und gänzlich urteilsfreie Leichtigkeit, mit der Vinterberg diesen Tanz am Abgrund vierer Midlife-Crisis-Männer dabei als fein ausgewogene Dramödie auf der Leinwand vorführt, vertauscht Petras allerdings mit etwas zu viel Klamauk und Slapstickeinlagen, die den Abend in die Länge ziehen.
Dafür gelingt ihm ein anderer Kniff. Der Regisseur holt die Schule tatsächlich ins Theater. Schülerinnen und Schüler des Essener Gymnasiums an der Wolfskuhle sind so etwas wie der antike Chor oder in diesem Fall das singende Klassenzimmer, die das Geschehen mal auf der Bühne, mal vom Zuschauerraum aus musikalisch kommentieren. Videosequenzen (Maria Tomoiaga) zeigen die ausgelassene Schultruppe zunächst Bierkasten-schleppend am See. Immer wieder zieht es die Kamera ans Wasser, auch wenn die Inszenierung nie mit den übermächtigen Filmbildern in Konkurrenz treten will.
Auch so manche Figur wird gegen den Strich besetzt. Sportlehrer Tommy ist bei Mansur Ajang allerdings ein dermaßen exzentrischer Paradiesvogel im Trainingsanzug und goldenen Cowboystiefeln (Kostüme: Cinzia Fossati), dass man ihn sich als Fußball-Coach eher schwerlich vorstellen kann.
Was endet schon ohne Kater?! Essens Publikum feiert die „Rausch“-Premiere
Thorsten Kindermann gibt dafür einen Parade-Pauker im beigen Anzug, der dazu vorzüglich singt und für die exzellente Einstudierung der Schülerchöre verantwortlich ist. Mathias Znidarecs Philosophielehrer Nikolay ist für die vorgetragenen Kierkegaard-Zitate zuständig und muss als gestresster Mehrfachvater dazu immer eine Packung Windeln mit sich herumtragen. Und Stefan Diekmanns anfangs unsicher-stotternder Geschichtslehrer Martin will im Grunde einfach nur mal wieder wahrgenommen werden – in der Schule und zuhause von seiner Frau Annika (Sabine Osthoff).
Wenn der Absturz da ist, der Trainer tot ist, die Trennung beschlossen, macht auch die Inszenierung ernst. Wissend, dass auch der schlimmste Kater gegen den verlässlichen Trost aus der Wodkaflasche kaum etwas ausrichten kann. Das nächste Glas geht schon wieder auf das Leben. Jubelnder Applaus.
„Rausch“, 2 h 45, eine Pause. Infos/ Tickets unter www.theater-essen.de