Dortmund. Mit heiterer Selbstironie und Tiefsinns-Spitzen geht das Schauspiel Dortmund in die Saison: Warum „Das Kapital: Das Musical“ ein echter Coup ist.

Premiere im vollbesetzten großen Haus, ein gebanntes, intelligent unterhaltenes Publikum und

Wie das übrige Ensemble in Hochform: Alexander Darkow
Wie das übrige Ensemble in Hochform: Alexander Darkow © theaterdo | Birgit Hupfeld

schier nicht enden wollender Jubel im Stehen nach gut 130 Minuten – das hat man länger nicht erlebt am Schauspiel Dortmund. Der Coup zum Saisonauftakt gelang am Freitagabend mit dem Stück „Das Kapital: Das Musical“, das Theater auf dem Theater bietet.

Nach nicht einmal zehn Minuten wird die Vorstellung, die wie ein ordentlich, aber mit bescheidenen Mitteln gespieltes Musical begonnen hatte, zum ersten Mal unterbrochen. Was folgt, ist die konsequent durchgeplante Weltkarriere eines Musicals und seiner Macher durch massiven Einsatz von Geld, die in konsequenter Exekution der Gesetze des Finanzkapitalismus in ein weltweites Theater-Imperium ohne eine einzige Bühne mündet. Das klingt nach grimmer Satire, kommt in Dortmund aber mit leichtfüßigem Scherz und doch auch tieferer Bedeutung daher.

Aus Schanghai nach Dortmund: Bestes Theaterfutter von „Nick“ Rongjun Yu

„Nick“ Rongjun Yu, der in Shanghai lebende Autor des Stücks, ist Intendant des internationalen „Act“-Theaterfestivals dort wie auch Chef des internationalen Comedy-Festivals und leitet die einzige staatliche Theaterbühne der Millionenmetropole. Und er kennt seinen Stoff bestens: Seit dem Jahr 2000 hat er weit über 50 Werke für die Bühne und die Leinwand verfasst, dazu noch ausländische übersetzt. Er kennt sein Metier durch und durch. Dass sein Stück „Das Kapital: Das Musical“ (Deutsch von Anna Stecher in einer Bearbeitung von Regisseur Kieran Joel, Marie Senf und dem Ensemble) so zielgenau auf Dortmunder Verhältnisse übertragen wurde, trägt zum Erfolg auf der Bühne am Hiltropwall nicht unwesentlich bei.

Dietmar Bär? Elyas M’Barek? Ach was: Hugh Jackman!

Wie auch die doppelbödige Selbstironie: Da ist von Auslastungszahlen bei 30 bis 40 Prozent die Rede, da wird aufgeregt mit dem Kulturdezernenten telefoniert, da lässt sich die Intendantin Kunstmann, die ihr Theater eigentlich vom Markt fernhalten und Kapitalismuskritik betreiben will, dazu breitschlagen, die Bilanz-Zahlen mit einem Musical aufzubessern. Als Kapital im Millionenformat ins Theater strömt, will sie nicht etwa Stars wie Dietmar Bär oder Elyas M’Barek engagieren lassen (wie es noch dem Schauspieler vorschwebte, der das Musical aufpeppen wollte und dafür ganz am Anfang die Vorstellung unterbrach), sondern gleich Hugh Jackman.

Cocktail aus Goethes „Faust“, Schillers „Räuber“ und „Maria Stuart“, Büchners „Woyzeck“ und „Danton“

Tanz ums Kapital mit Wallstreet-Wölfin: Sarah Quarshie (Mitte) mit Sofia Galin, Saranya Bosch, Galatea Weber, Viktoria Fedorova und  Viktoria Galin (von links).
Tanz ums Kapital mit Wallstreet-Wölfin: Sarah Quarshie (Mitte) mit Sofia Galin, Saranya Bosch, Galatea Weber, Viktoria Fedorova und Viktoria Galin (von links). © theaterdo | Birgit

Dass man am Dortmunder Schauspiel weit davon entfernt ist, in diesen Dimensionen zu denken und zu spielen, macht die tatsächlichen Limits (etwa beim Gesang oder in der Präzision der Choreografien) schon wieder sympathisch. Und über einzelne Längen wie in dem ansonsten grandiosen Klassiker-Cocktail aus Goethes „Faust“, Schillers „Räuber“ und „Maria Stuart“, Büchners „Woyzeck“ und „Danton“ fegt die schauspielerische Verve hinweg, mit der hier das gesamte Ensemble über die Bühne fegt. Allen voran Lukas Beeler, der in der Hauptrolle einen großartigen Einstand feiert. Aber auch Marlena Keil, Raphael Westermeier, Alexander Darkow, Sarah Quarshie, Antje Prust und Adi Hrustemovic sind durchweg auf einem Höhepunkt ihres Könnens zu erleben.

Der Trick dieser pfiffigen, sehr gekonnten Inszenierung von Kieran Joel liegt darin, dass der Diskurs übers Theater, seinen Sinn und Zweck, seine Bedingungen und Fähigkeiten nicht gerade simuliert, aber doch nur angetippt, angestoßen wird, sehr zielgenau und plötzlich tief, wo es um Theater als „kulturindustrielle Bestätigungsmaschine“ und die „schmerzhafte Wahrheit“ geht, dass nicht nur wir im Kapitalismus leben, sondern er auch in uns. Und dass es den archimedischen Punkt außerhalb des Ganzen gar nicht gibt. Was dem Publikum noch ein bisschen zu knabbern mitgibt fürs Foyer oder den Heimweg.

Weitere Aufführungen: 9. und 29. September, 14. und 29. Oktober, 19. November, 16. Dezember. Karten (9-23 Euro): www.theaterdo.de oder Tel 0231 / 50 27 222.