Essen. Neu im Kino: „Die Purpursegel“ spielt um 1920 und sieht aus wie ein Film von 1980: 100 Minuten 35-mm-Magie sind eine Kur für streamingmüde Augen.
Bloß nicht vom Titel abschrecken lassen: „Die Purpursegel“ ist gar nicht kitschig. Im französischen Original heißt der Film, der letztes Jahr in Cannes Premiere gefeiert hat, dann auch einfach „L’envol“ („Der Flug“). Kitschklippen gibt es indes genug – die märchenartige Vorlage von Alexander Grin (1880-1932), die darin erzählte Liebesgeschichte, die Gesangspartien im Film. Regisseur Pietro Marcello weiß sie alle gekonnt zu umschiffen.
Entstanden ist ein nostalgischer Film von großer Schönheit, der von Vater- und Tochterliebe handelt, von der zeitlosen Sehnsucht, aus der Provinz auszubrechen und vom Untergang eines Handwerks an der Schwelle zur Moderne. Ein Denkmal also – auch für die heute im Verschwinden begriffene Handarbeit des Filmemachens. Denn Marcello hat sich bei seinem ersten französischsprachigen Film für eine ebenso teure wie aufwendige Analogproduktion entschieden: Herrlich grob gekörnte Bilder im Format 4:3, die, sei es auf dem Feld oder in der Stube, echtes Licht und echte Dunkelheit einfangen (wenn es dunkel ist, ist es wirklich dunkel) – natürlich an Originalschauplätzen.
Selten waren Falten schöner
Zu sehen ist viel Landschaft, die Weiten der Picardie nördlich von Paris: Felder, Wiesen, Wälder, Steilküsten. Im Dorf dann viele alte Menschen mit noch mehr Falten im Gesicht. Und auf den Händen. Letztere sind im Film zentral: Die schönsten, angeblich Wunder vollbringenden hat Hauptdarsteller Raphaël (Raphaël Thiéry). Immer wieder werden seine wulstigen, ledern schimmernden Hände mit ihren unzähligen Falten in wunderschönen Nahaufnahmen gezeigt. Ebenso die auffällig expressiven Gesichter von Amme, Kneipenwirt, Bauleiter, Dorfhexe – alles einfachen Leute mit dreckigen Fingernägeln.
Raphaël ist einer von ihnen. Zu Beginn kehrt er aus jenem Weltkrieg heim, von dem die Leute noch nicht wissen konnten, dass es (nur) der Erste gewesen sein sollte. Ein grummeliger, wortkarger, humpelnder Schreiner, dem ein schreiendes Baby in den Schoß gelegt wird: Seine Tochter Juliette, erfährt er. Rührend kümmert er sich fortan um das mutterlose Kind, allen gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz. Und die sind groß. (Warum, kann hier nicht verraten werden.)
Hinter der grobschlächtigen Erscheinung liegt offenbar ein empfindsamer Kern. Und siehe da: Die rauen Handwerkerhände können fein gearbeitetes Kinderspielzeug herstellen, können Klavier spielen, können zuletzt auch väterliche Zärtlichkeit spenden. Das ist die erste Liebesgeschichte, abgelöst wird sie von der Come-of-Age-Geschichte der Tochter (Juliette Jouan): An die Stelle des geliebten Papas rückt in der zweiten Hälfte ein junger Pilot, gespielt von Louis Garrel (der auch mit Anfang 40 noch als Anfang-20-jähriger durchgeht): Bruchlandung, gebrochenes Bein, gebrochenes Herz usw.
Pietro Marcello will sich für kein Genre entscheiden
Eine einfache Geschichte, die Anleihen beim Märchen und beim Musikfilm macht, die Genres aber gleichsam nur touchiert und dann weiterzieht: Bevor die Jacques-Demy-Hommage in ein Musical zu kippen droht, hat Juliette schon wieder aufgehört zu singen, und der Film segelt behutsam weiter, erzählt dabei auch von Verlust, von Gewalt, Trauer und der Emanzipation der verfemten Hauptfigur, die nicht zufällig ein scharlachrotes Kleid trägt.
Zum Schluss blickt die nunmehr erwachsene Frau aufs offene Meer, bereit, aufzubrechen, mit Wind in den Segeln hinaus in die Welt; ein melancholisches Ende, angesichts des heraufziehenden Ungewitters am Zeithorizont von 1938. Zwischen den Menschheitskatastrophen liegen genau 100 Minuten vergänglichen Filmglücks.