Washington. Das rechte Amerika macht Hexenjagd auf „linke“ Literatur wie die von Amanda Gorman. Immer mehr Bücher verschwinden aus den Schulbibliotheken.

Es war der vielleicht berückendste Moment bei der Amtseinführung von Joe Biden im Januar 2021. Amanda Gorman, eine damals erst 22 Jahre alte schwarze Studentin, eroberte in kalter Wintersonne mit ihrer ganz eigen swingenden, mitreißend vorgetragenen Lyrik in dem Gedicht „The Hill We Climb“ auf den Treppen des Kapitols in Washington die Herzen von Millionen US-Amerikanern. Das war ein Mal. Heute ist die junge Poetin in den Sog einer Inquisition geraten, die systematisch auf Drängen rechtskonservativer Organisationen und Stichwortgeber Bücher aus Schul-Bibliotheken und Lehrplänen entfernen lässt. Generalverdacht: zu links.

Gormans Werke stehen Grundschülern nicht mehr zur Verfügung

In Florida gelang es einer einzelnen Mutter, Gormans Werke wahrheitswidrig mit „Hassbotschaften” gleichzusetzen. Und dafür zu sorgen, dass sie Grundschülern nicht mehr zur Verfügung stehen.

Kein Einzelfall. Wie der Autorenverband Pen America ermittelt hat und die American Library Association (ALA) bestätigt, haben Zensur und Bücherverbote in den USA den höchsten Stand seit 20 Jahren erreicht. So wurden in 2022 über 2500 Titel beanstandet, 40 Prozent mehr als 2021. Unter dem Vorwand, die „linke Indoktrinierung” von Kindern mit Themen wie Rassismus, Sexualität und Gender-Diversität verhindern zu müssen, treten die Wortführer der Bewegung mit dem Anspruch an, dass allein darüber zu befinden haben, was der moralischen Unversehrtheit ihrer Sprösslinge frommt und was nicht.

Dabei gehen die Zensoren strategisch und unerbittlich vor. Unterstützt von eng mit den Republikanern verquickten Lobby-Gruppen wie „Moms for Liberty” (Mütter für Freiheit), die in über 35 Bundesstaaten aktiv ist, oder der rechtskonservativen Organisation „No Left Turn in Education” (Kein Abbiegen nach links in der Bildung) reichen einzelne Aktivisten oft Dutzende von Anträgen auf Verbannung von Büchern gleichzeitig bei den zuständigen Schul-Räten der Landbezirke ein.

In Florida wurden 100 Bücher aus den Bibliotheken entfernt

Auf Formblättern wird als Grund angegeben, „Kinder zu schützen”. Das jeweilige Werk enthalte „unangemessenen Inhalt”, der „die Seele der Schüler beschädigt”, heißt es. Der Nachweis, dass das inkriminierte Buch tatsächlich gelesen wurde, ganz zu schweigen von verstanden, bleibt aus.

Mit dieser Masche etwa hat es in Clay County/Florida ein gewisser Bruce Friedman fertiggebracht, dass allein auf seine Initiative hin binnen weniger Monate über 100 Bücher aus den Bibliotheken im Schulbezirk entfernt wurden. Und das im Land, das so viel auf die Freiheit der Gedanken gibt.

Aber Friedman läuft sich erst warm. Der Ex-New Yorker hat öffentlich erklärt, er habe eine Liste von 3600 Büchern zusammengestellt, die „besorgniserregenden Inhalt” böten. Dabei geht meist um diverse Sexualität und alle Facetten rund um das Transgender-Thema.

Auch preisgekrönte Werke werden verboten

Zu den in mehreren Bundesstaaten am meisten verbotenen Werken gehören „Gender Queer“ von Maia Kobabe. Darin schildert die preisgekrönte Autorin im Comic-Stil ihre Jugend als nonbinärer Mensch. Fast 60 Schulbezirke haben es auf den Index gesetzt. „Lawn Boy” von Jonathan Evison dreht sich um einen jungen Mann mexikanischer Herkunft, der mit Rassismus und sozialer Armut konfrontiert ist. „All Boys Aren’t Blue“ von George M. Johnson handelt vom Heranwachsen eines queeren, schwarzen Mannes. Neben diesen Büchern sind aber auch preisgekrönte Werke von Welt-Autoren wie der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison („Beloved“) oder Bestsellerkönig Khaled Hosseini („Drachenläufer“) auf den Radar geraten.

Die konservativen Zensoren sehen in diesem Kulturkampf, den einst Donald Trumps früherer Büchsenspanner Steve Bannon ausgerufen hat, einen Hebel zur Wähler-Mobilisierung. Angeführt werden die Säuberungsaktionen in den Bibliotheken von republikanischen beherrschten Bundesstaaten wie Texas und Florida. Hier gibt es die mit Abstand meisten Verbotsanträge. Auch weil der Gesetzgeber Vorarbeit geleistet hat.

Bücher mit anfechtbarem Inhalt werden nicht mehr bestellt

In Florida, wo der ideologisch rigorose Gouverneur Ron DeSantis ins Weiße Haus will, ist erst kürzlich das HB-1467-Gesetz in Kraft getreten. Es legt für Schulbibliotheken schwammige Kriterien fest: Keine Pornografie. Nur altersgemäße und für die Schüler nachvollziehbare Inhalte, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Einander küssende Mädchen und Jungs, die sich zu Jungs hingezogen fühlen, wie sie in manchen Werken zu finden sind, sind damit für Eltern grundsätzlich beanstandungsfähig.

Weil Bibliothekare in Florida belangt werden können, wenn sie indizierte Bücher vorrätig halten, findet dort nach Angaben von Berufsverbänden bereits eine Art „Schere im Kopf statt”. Bücher mit potenziell anfechtbarem Inhalt würden gar nicht mehr bestellt, sagt die Schul-Bibliothekarin Julie Miller.

Die Demokraten sehen eine Bedrohung der offenen Gesellschaft

Präsident Joe Biden und die Demokraten sehen in der Radikalisierung eine Bedrohung der offenen Gesellschaft – und einen Mikrokosmos im Kulturkrieg, der seit der Präsidentschaft Donald Trumps 2017 bis 2021 Fahrt aufgenommen habe. Sie weisen darauf hin, dass in landesweiten Umfragen über 70 Prozent der Eltern gegen die eifernde Bücher-Selektion in den Schulen sind. Die Präsidentschaftswahl 2024 wird damit auch eine Wahl über die Frage, was Amerikas Schülerinnen und Schüler lesen dürfen – und was nicht.