Mülheim/R. Mülheims Dramatikpreis bei den Stücke-Tagen ging an „Die Katze Eleonore“ von Caren Jeß. Erstaunlich: „Sistas!“ spielte bei der Jury keine Rolle.

Sie ist nicht eben sympathisch, die Immobilienmaklerin Eleonore, die eines Tages entdeckt, dass sie eigentlich eine Katze ist, und beschließt, deren Identität und Lebensweise anzunehmen. Für ihren Monolog „Die Katze Eleonore“, der bei den 48. Mülheimer Theatertagen vom Staatsschauspiel Leipzig in der Regie von Simon Werdelis gezeigt wurde, erhält Caren Jeß den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikpreis 2023.

Das „hochmusikalische und rhythmische“ Stück, so die Begründung, sei extrem konsequent und provokativ“. Das Publikum könne sich mit der Figur identifizieren und aus neuer Perspektive auf sich selbst schauen. Die Entscheidung der Jury fiel mit drei gegen zwei Stimmen knapp aus. Das Nachsehen hatte Martin Heckmanns‘ Singspiel „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“. Der Verlauf der öffentlichen Jury-Diskussion hatte auf die Entscheidung keineswegs hingedeutet. Zwar empfand Schauspielerin und Regisseurin Anita Vulesica „Die Katze Eleonore“ verstörend, tragisch und total komisch zugleich. Von Exit-Strategie, vom Ausstieg aus der Gesellschaft war die Rede.

Harsche Abfuhr für Katja Brunners „Kunst der Wunde“

Regisseur Frederik Tidén verortete Jeß zwischen Ingeborg Bachmann und Franz Kafka. Kulturjournalist Till Briegleb entdeckte in diesem Stück über Selbstfindung aber einen Über-Egoismus als zentrales Problem. Taugt jemand, dem die Menschen, die Gesellschaft, ja die ganze Welt völlig egal ist, zur Leitfigur? Beate Heine, Dramaturgin und designierte Co-Intendantin des Staatstheaters Wiesbaden, bekräftigte die Bedenken. „Die Katze Eleonore“ kam dann doch in die Finalrunde.

Im ersten Teil der Diskussion, in der es um die Reduzierung von sieben auf vier „echte“ Preiskandidaten ging, erhielt „Die Kunst der Wunde“ von Katja Brunner die harscheste Abfuhr. Zu allgemein, zu willkürlich, ohne Kontext, hieß es, eine Textsuppe, die keinerlei Fantasie eröffne. Nur Theaterkritikerin Christine Wahl als Sprecherin des Auswahlgremiums warb mit Brunners „lyrischer Verdichtung“. Wahl war auch die einzige, die lobende Worte für Sivan Ben Yishais „Bühnenbeschimpfung“ fand. Das neue Stück der letztjährigen Preisträgerin sei arrogant, fies und voyeuristisch (Briegleb: „Das einzige Stück, das mich richtig verärgert hat“), sei oberfächlich (Vulesica), denunziere das Theater auf unerträgliche Weise. Tidén hätte am liebsten den Preis sofort an Elfriede Jelinek vergeben. Doch obwohl alle, bis auf Wahl, sich berührt (Heine) oder atemlos (Vulesica) angesichts der Rasanz und Treffsicherheit des Textes zeigten, blieb „Angabe der Person“ auf der Strecke.

Golda Bartons „Sistas!“ wurde in hohen Tönen gelobt, spielte aber keine Rolle mehr

Überraschend fand Golda Bar­tons frei über Tschechows „Drei Schwestern“ entwickeltes Stück „Sistas!“, das vom Theaterkollektiv Glossy Pain/Volksbühne Berlin vorgestellt worden war, in der Endrunde kaum noch Erwähnung. Barton verlegt das Geschehen ins Berlin des späten 20. Jahrhunderts, die Schwestern sind deutsche People of Color, Töchter eines schwarzen Soldaten, der zum Geburtstag seiner jüngsten Tochter aus den USA angereist ist.

Die Resonanz war überwältigend. Die Fronten beim Thema Rassismus, die unterschiedlichen Grade von Diskriminierung würden mit viel Humor aufgebrochen, hieß es; die Figuren seien, anders als in vielen Diskurs-Stücken, endlich einmal keine Thesenträger, alle Positionen ambivalent und durchlässig. Doch als Moderatorin Cornelia Fiedler angesichts der vorrückenden Stunde auf eine Entscheidung drängte, ging es nur noch um Caren Jeß oder Martin Heckmanns. Auf beide fielen zwei Stimmen, und so musste Frederik Tidén, der als einziger für Clemens J. Setz‘ „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ plädiert hatte, das Zünglein an der Waage spielen.

Publikumspreis für Caren Jeß’ Stück, Gordana-Kosanović-Preis für Vidina Popov

Traditionsgemäß konnten auch die Besucher eine Bewertung der im Wettbewerb vorgestellten Stücke vornehmen. Der nicht dotierte Publikumspreis ging ebenfalls an Caren Jeß und „Die Katze Eleonore“Vor der Jury-Sitzung im Raffelberg-Park wurde auch die neue Preisträgerin des Gordana-Kosanović-Preises bekannt gegeben. Die seit 1986 vom Förderverein des Theaters an der Ruhr im Gedenken an die früh verstorbene Schauspielerin und Mitbegründerin des Theaters vergebene Auszeichnung geht an Vidina Popov für ihre herausragende Leistung in Ben Yishais „Bühnenbeschimpfung“.