Paderborn. Welche Anlaufstellen für Betroffene gibt es im Erzbistum Paderborn? Welche Fragen kriegt Thomas Wendland vom Team Intervention zu hören?
Wie viel Geld ist ein zerstörtes Leben wert? Das ist eine wichtige Frage im Arbeitsalltag von Thomas Wendland. Der 53-Jährige ist seit zwei Jahren Interventionsbeauftragter des Erzbistums Paderborn. Das bedeutet: Bei ihm und seinem Team laufen alle Fäden zusammen, wenn es um sexuelle Gewalt gegen Minderjährige und Schutzbefohlene geht. Im Interview spricht der Religionspädagoge und Seelsorger über seine Arbeit und auch darüber, welche Situationen ihn selbst stark belasten.
Können Sie kurz beschreiben, was Ihre Aufgaben sind?
Thomas Wendland: Gemeinsam mit meinem Team bin ich für das Fallmanagement zuständig, und zwar bei Fällen aus der Vergangenheit, wenn heute erwachsene Personen eine Meldung abgeben, und bei akuten Fällen. Erstere sind oft mit einem Antragsverfahren auf Anerkennungsleistung verbunden, bei den akuten Fällen ist sofortiges Handeln erforderlich, z.B. muss die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden. Neu dazugekommen sind die Widerspruchsverfahren, die jetzt möglich sind, wenn Betroffene der Auffassung sind, dass sie zu wenig Geld erhalten haben. Bei mir lag auch die Begleitung des Aufbaus einer Betroffenenvertretung. Dazu kommen alle Maßnahmen der Begleitung von Betroffenen, zum Beispiel die Unterstützung bei Therapie- und Beratungsleistungen.
Arbeiten Sie mit den weiteren Einrichtungen und Personen im Erzbistum zusammen?
Ja, ich halte den Kontakt zu allen Ansprechpartnern für Betroffene, der Betroffenenvertretung, dem unabhängigen Forschungsprojekt, den unabhängigen Ansprechpersonen Rechtsanwältin Gabriela Joepen und Rechtsanwalt Prof. Dr. Martin Rehborn, der Unabhängigen Aufarbeitungskommission sowie dem neuen Seelsorger für Betroffene, Pastor Liudger Gottschlich aus Dortmund. Wir haben mittlerweile eine breite Landschaft, wo sich Betroffene melden können.
Ein Seelsorger für Betroffene
Es gibt einen eigenen Seelsorger für Betroffene?
Die Öffentlichkeit denkt, dass die Betroffenen einen Zorn auf die Kirche haben. In den Gesprächen bin ich doch überrascht, wie viele von ihnen noch eine Beziehung zu einer Kirche und zu ihrem Glauben haben, unter der Fragestellung: Was hat der Missbrauch mit meinem Glauben zu tun? Paderborn und München sind die einzigen Bistümer, die eine solche Stelle eingerichtet haben. Seelsorge ist längst nicht für alle Betroffenen ein Thema, aber es ist ein Angebot für diejenigen, die Bedarf haben. Im November planen wir ein spirituelles Wochenende für Betroffene.
In der Vergangenheit wurde oft berichtet, dass Betroffene sich unter Druck gesetzt fühlen, wenn es um Geld geht. Wie laufen solche Gespräche denn heute ab?
In der Regel läuft das Verfahren so: Ein Betroffener meldet sich und berichtet: Ich habe durch den Priester X das erlebt. Dann schauen wir als erstes: Lebt der Priester noch? Wenn der Priester verstorben ist, das betrifft über 90 Prozent der Fälle, gehen die ersten Informationen in jedem Fall an die unabhängigen Ansprechpersonen. Wir sehen nach: Was wissen wir über den Beschuldigten, wo war der eingesetzt, wo war der Tatort, wo war er noch eingesetzt, wir versuchen die Umstände zu recherchieren. Wir geben alle Infos weiter an die unabhängigen Ansprechpersonen und die koordinieren ein Gespräch, daran nimmt gegebenenfalls noch ein Therapeut oder eine Begleitperson teil. In dem Gespräch erläutert der Betroffene die Umstände, den Tathergang und die Folgen der Tat. Das ist für viele Betroffene durchaus eine sehr belastende Situation, gleichzeitig haben wir auch Erfahrung und eine Ausbildung als Traumafachberater.
Und dieses Gespräch ist notwendig, um einen Antrag auf Anerkennung des Leids zu stellen?
Für manche Betroffenen spielt die Höhe der Anerkennungsleistung schon eine Rolle, nicht nur monetär, sondern auch als Anerkennung des Leids. Für Betroffene ist es mitunter schwierig, wenn die Anerkennungsleistung niedrig ausfällt. Wir akzeptieren, wenn die Betroffenen sagen, dass sie über die Tat nicht so viel sagen möchten, aber wir weisen darauf hin, dass das Auswirkungen auf die Anerkennungsleistungen haben kann. Manche Betroffene sagen, dass die Gespräche sehr belastend sind, aber wir versuchen, die Gespräche so zu führen, dass es nicht noch belastender wird.
Die wichtigen Fragen
Was sind denn die wichtigen Fragen aus der Sicht der Betroffenen?
Die Frage „Glauben Sie mir?“ ist eine oftmals zentrale Frage Betroffener. Wichtig ist auch die Frage, ob der Beschuldigte ein Wiederholungstäter ist oder ob sie die einzigen sind, mit denen er das gemacht hat. Es gibt einige Namen, da wissen wir Bescheid, wenn die genannt werden, manchmal haben wir fünf, sechs Fälle und dann kommt noch einer dazu. Betroffene erzählen mit einem unheimlichen Scham- und Schuldempfinden, daher spielt die Frage eine größere Rolle. Viele Betroffene glauben, dass sie selbst Schuld haben. Schuld und Scham sind ein Riesenthema. Ich würde mir bei den Tätern diese Schuld und Scham wünschen.
Was ist ein zerstörtes Leben wert? Ein Kläger in Köln möchte 800.000 Euro Schmerzensgeld erstreiten, da er mehr als 300 Mal von einem Priester missbraucht wurde.
Keine Summe dieser Welt löst diese Problematik auf. Die 5000 Euro, die in der Vergangenheit als Anerkennung des erfahrenen Leids gezahlt wurden, sehe ich als problematisch an. Eine Frau sagte neulich zu mir: Mein ganzes Leben ist zerstört. Wenn die Betroffenen eine Möglichkeit sehen, in einem zivilen Prozess ein Schmerzensgeld zu erklagen, kann ich das, mit Blick auf die Gespräche mit Betroffenen, gut nachvollziehen. Wir müssen abwarten, was in den derzeit anhängigen Zivilklagen in München und Köln entschieden wird.
79 Anträge
Wie viele Fälle bearbeiten Sie derzeit?
Im Jahr 2021/22 hatten wir 79 Anträge bei der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen. Im Moment habe ich den Eindruck, dass es ruhiger wird. Das wird sich aber durch die Einführung des Widerspruchsrechts ändern. Ich möchte gerne jeden Betroffenen über die Fristen informieren, meine Sorge wäre, dass jemand zu spät darüber informiert wird, dass eine Frist am Widerspruchsrecht hängt.
Und wie viele aktuelle Fälle bearbeiten Sie?
Das sind im Moment eine Handvoll. Es ist kein strafrechtlich relevanter Fall dabei, sondern es geht um Grenzverletzungen, besonders bei der digitalen Kommunikation, etwa, wenn ein Erwachsener einem schutzbefohlenen Jugendlichen WhatsApps schreibt, worin steht: Du bist so süß.
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