Essen. Charlie and His Orchestra waren das absurdeste Propagandaunternehmen der Nazis. Demian Lienhard schrieb darüber den Roman „Mr. Goebbels Jazzband“
Die Geschichte wäre unglaublich, wenn sie nicht wahr wäre: Unter der Leitung des Saxofonisten Lutz Templin spielten um die fünfzehn Musiker aus diversen Ländern Swingmusik im Dienste des NS-Staates. Nach ihrem Sänger Karl Schwedler nannten sie sich Charlie and His Orchestra. Der war ein flotter Kerl und zwielichtig wegen undurchsichtiger Verbindungen zu Ribbentrops Außenministerium. Homosexuelle, Juden und Kommunisten bevölkerten die Plätze hinter den Notenpulten, und diese Teilhaberschaft bewahrte sie vor der Einberufung oder noch Schlimmerem. Sie waren Teil des abstrusesten Propagandaunternehmens der Nazis, wurden gut bezahlt, und ihre eigentlich ,entartete’ Musik, in der sie US-Songs mit neuen Texten über den Äther in Richtung England schickten, hatte Goebbels‘ Segen. Als „musikalische Schattenarmee“ sollten sie die Moral des Feindes via Kurzwelle ins Wanken bringen.
Um das nach Norden ausgestrahlte Gemisch aus deutschen Erfolgsmeldungen und Dschungelmusik glaubhaft zu grundieren, moderierte ab 1939 der britisch-amerikanische Wortjongleur Lord Haw-Haw die Sendung „German Calling“ aus dem Berliner Funkhaus. Goebbels, Göring und Hitler nannten diesen in Wilhelm Froehlich eingedeutschten William Joyce irgendwann ihr bestes Pferd im Stall. Ein paar Jahre später sollte der 1,69 Meter-Mann am 3. Januar 1946 in Wandsworth/London zum letzten im Empire Hingerichteten werden. In lächerlichem Übereifer hatte er seine Sprachbegabung ins Demagogische kanalisiert als berühmtester und einflussreichster Faschist Großbritanniens. Auch privat ein Hallodri, zog er so lange die Strippen, bis er sich darin verfing.
Demian Linhard erfindet einen Kollegen, der über die Musiker schreiben soll
Was für Stoffe! Aber wie bändigt man sie? Der in Zürich lebende Schriftsteller Demian Lienhard tut es, indem er den zeitversetzten Kollegen Fritz Mahler erfindet und losschickt nach Deutschland. Dort soll er in einem Roman den Erfolg dieses totalen Swings dokumentieren, wofür auch er großzügig honoriert wird.
Nur kommt er nicht voran. Mal steht gegen ihn das Misstrauen der Musiker wie eine Wand, mal ist er wie gelähmt vor der allzu großen Aufgabe; dann wieder bringen ihn in den Etablissements die sich wegen der Macht der Musik aneinanderreibenden Körper durcheinander, vom Alkoholkonsum ganz zu schweigen. Zudem versteht er rein gar nichts vom Jazz. Also ausschlafen und lange nachdenken. Immerhin hat er aus Goethes „Wilhelm Meister“ die Maxime verinnerlicht, dass man aus den Torheiten der anderen seinen Vorteil ziehen kann.
Entwicklungsroman über William Joyce, also Wilhelm Froehlich oder Lord Haw-Haw
Demian Lienhard beginnt sein furios hintergründigen Lesefutter wie einen traditionellen Entwicklungsroman des William Joyce (oder besser: Fehlentwicklungsroman), dessen Biografie gewachsen ist aus einer Verkettung von Zufällen. Es ist, als würde die Tragödie in einer Farce wachgerufen. Immer wieder thematisiert Lienhard das Los des Erzählers, seinen Figuren tatenlos zusehen zu müssen und aus deren Fehlern sprachgewaltige Mahnungen für die Nachwelt zu destillieren. Dazu bringt Lienhard eine bildgewaltige Sprache suggestiv in Stellung. Wie Lienhard die Stimmen ins Bild rückt und zur Geschichte formt, ist großartig und voller Überraschungen. Er jagt sie los ganz ähnlich dem „Klarinettengenäsel“ oder dem „überdrehten Tüdeln eines Saxophons“ in der Musik dieses mit „Schneid, Schnitt und Schnelligkeit“ spielenden Orchesters. In beeindruckender Geschwindigkeit lässt Demian Lienhard Volte auf Volte folgen und tut genau das, wozu Schriftsteller da sind: die Ruhe der Archive stören.