Duisburg. Sein Herz schlägt für viele Orte: An der Rheinoper ist Vitali Alekseenok aus Belarus Kapellmeister, in der Ukraine leitet er ein Musikfestival.

Ob es störe,wenn er beim Interview durch den Regen spaziere? Stört es nicht. Es gibt ja Schirme. Einer wie Vitali Alekseenok braucht in der Pause einfach Bewegung. Er ist 32, er ist in Belarus geboren, er ist Chef eines Festivals in Charkiw, er dirigiert als frischgebackener Kapellmeister der Rheinoper derzeit „Die Zauberflöte“ in Duisburg. Früher wären das einfach Eckdaten eines weltläufigen Dirigentendaseins gewesen. Seit gut einem Jahr stehen die Schauplätze für ein Leben voller Widersprüche.

Widersprüche? „Ich blende nichts aus, wenn ich hier am Pult der Oper stehe“, sagt Alekseenok, „wenn ich in Duisburg die Zauberflöte dirigiere, geht es auch dort um die Macht, um Werte. Und wenn man sich von konkreten Ereignissen befreit wie dem Krieg von 2022, dann sind solche Werke voller Bezüge zu uns heute.“ Und doch hat das „konkrete Ereignis“ das Leben des jungen Orchesterleiters, der nach Studien in Weimar vor sieben Jahren seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegte, umgekrempelt. „Dass wir in einem Teil der Welt leben, in der wir in einem Theater miteinander Mozarts Musik teilen dürfen, ist ein Geschenk. In der Ukraine geht es derzeit nicht.“

Aber etwas geht auch da, ein klingendes „Trotzalledem“. Denn dort wird in U-Bahn-Stationen und Bunkern musiziert, die Menschen in der Ukraine wollten einfach nicht, dass die Musik schweigt: „Kunst zu fühlen, das ist ja auch eine Normalität, wenn auch eine elitäre“, und der Wunsch danach sei in dieser Zeit eher größer geworden.

Vitali Alekseenok ist Dirigent an der Rheinoper – und hat ein Festival in Charkiw

Diese Zeit! Wer ihm Putins Einmarsch prophezeit hätte, als er im Sommer 2021 zum Chef des „KharkivMusicFest“ berufen wurde, dem hätte er nicht geglaubt. „Es lag nicht in der Luft“, sagt Vitali Alekseenok, der noch Anfang Februar 2022 in Charkiw war, da standen schon hunderttausend russische Soldaten an der Grenze. „Aber kein Bewohner, den ich traf, hat geglaubt, dass so ein absurder Krieg ausbrechen könnte.“

Es ist sein großer Wille, nicht alles der politischen Situation unterzuordnen. „Das Festival diesen Sommer findet statt – und zwar in Charkiw. Menschen sind ja Menschen und nicht nur Wesen, die sich im Krieg befinden. Ein klassisches Konzert zu hören, das ist doch normaler als der Krieg, oder?!“, fragt er fast trotzig verschmitzt und setzt nach: „Wieso soll ich damit aufhören, wenn ein Krieg ausbricht? Es ist ein Teil meines Lebens!“

Alekseenok war Zeuge des Aufbegehrens gegen Lukaschenko – und schrieb ein Buch darüber

Es war gar keine Frage für ihn, sich auf den Weg zu machen kurz nach dem Überfall auf die Ukraine. Da war der Mann am Dirigentenpult dann an der Grenze zur Ukraine in einem Hilfskonvoi ein anderer, war Fahrer, war Vermittler, war Dolmetscher. Unterjocht zu werden, für die Freiheit aufzustehen, das war einem Menschen aus Belarus ja nicht fremd. Deutschland verlässt Alekseenok 2020 für eineinhalb Monate, um die Protestbewegung gegen Lukaschenko zu unterstützen. Er erlebt Schockierendes, berichtet von Verschwundenen, von Einschüchterung, Folter – und schreibt nach seiner Rückkehr über all dies Prägende ein Buch, um der Welt zu erzählen, wie sie waren, „Die weißen Tage von Minsk“.

Sein Buch ist nun über zwei Jahre alt, Alekseenoks optimistisches, das Gefühl des Aufbruchs atmende Schlusskapitel liest man heute deprimiert. Auch weil ein noch größerer Schrecken die innenpolitische Situation von Belarus im Westen zu einer Nachrichtenstelle hinter dem Komma hat werden lassen.

„Wie schön unser Leben hier ist!“: Alekseenok fand auch zu neuer Dankbarkeit

Den Dirigenten lässt diese mediale Funkstille nicht kalt. Aber in unserer Begegnung regiert kein Frust. Alekseenok erzählt von einer neuen Dimension der Dankbarkeit: „Als in Deutschland lebende Menschen dürfen wir nicht vergessen, wie schön unser Leben hier ist. Es gibt so viele Ecken, wo es anders ist. Das sollte uns eine andere Perspektive geben und viele Probleme doch sehr klein scheinen lassen.“

Es regnet immer noch, eine Frage zum Abschied: „Welches, Maestro Alekseenok, wird das erste Stück Klassik sein, das Sie dirigieren, wenn Friede in der Ukraine ist?“ Er zögert keinen Augenblick: „Beethovens Neunte! Auch in Belarus! Es gibt kein stärkeres Symbol für große Kunst und die menschliche Gemeinschaft!“

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ZUR PERSON

Vitali Alekseenok wird 1991 in der belarussischen Kleinstadt Wilejka geboren. Er selbst nennt seine Ausbildung zum Musiker etwas, das ihn auf die Spur gebracht hat. Erst spielt er Posaune, dann nimmt er mit 20 in Petersburg ein Dirigierstudium auf; 2015 führt ihn eine Einladung an die Franz-Liszt-Musikhochschule Weimar. Alekseenok dirigiert heute an vielen Schauplätzen der Klassik; 2021 heimste er beim Internationalen Dirigierwettbewerb Arturo Toscanini in Parma den ersten Preis ein.

Die Erinnerungen an den Aufstand gegen das Lukaschenko-Regime hat der Dirigent in „Die weißen Tage von Minsk“ aufgeschrieben (S. Fischer Verlag, 192 Seiten, 18 €).