Mülheim/R. Vorjahres-Siegerin Sivan Ben Yishai bringt Ausbeutung am Theater auf die Bühne – Elfriede Jelinek blickt auf ihr Leben zurück

2022 sei ein ausgesprochen starker Jahrgang gewesen, nicht nur wegen der Zahl von 169 uraufgeführten deutschsprachigen Dramen, sagte Jury-Sprecherin Christine Wahl: Die Stücke bewegten sich „versiert in den Debattenfeldern unser Tage“, ohne die Verkürzungen des oberflächlichen Diskurses zu übernehmen. Sieben Inszenierungen konkurrieren bei den Mülheimer Stücke-Tagen vom 13. Mai bis zum 3. Juni um den Dramatikpreis der Stadt.

Ein achtes Stück – „Geht es Dir gut?“ von Mülheim-Stammgast René Pollesch und Fabian Hinrichs wurde der Ehre halber ebenfalls nominiert, weil es Sinn und Leistung des Gegenwartstheaters radikal in Frage stellt; es kann aber bei den „Stücken“ nicht aufgeführt werden, weil ein fahrendes Taxi und eine startende Rakete darin eine Rolle spielen. Das geht in der Berliner Volksbühne, aber nicht in Mülheim, damit scheidet „Geht es Dir gut?“ aus dem Wettbewerb um den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikpreis aus.

Sivan Ben Yishai liefert „radikalstmögliche Nabelschau-Kritik“

Auch die „Bühnenbeschimpfung“ von Vorjahressiegerin Sivan Ben Yishai nimmt das Gegenwartstheater aufs Korn, es geht um autoritäre und ausbeuterische Verhältnisse hinter den Theaterkulissen und deren Widerspruch zum erhobenen moralischen Zeigefinger auf der Bühne. „Radikalstmögliche Nabelschau-Kritik“, so Christine Wahl.

Zum 22. Mal in Mülheim zu Gast ist Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, deren Erfahrungen mit einer Steuerprüfung das Stück „Angabe der Person“ auslösten; es enthält aber auch einen persönlichen Rückblick Jelineks auf den jüdischen Teil ihrer Familiengeschichte. Bis auf die Mülheim-Debütantin Golda Barton (mit einer Überschreibung von Tschechows „Drei Schwestern“ unter dem Titel „Sistas!“ (Berliner Volksbühne) gibt es lauter Wiedersehen. Etwa mit Martin Heckmanns („Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, Singspiel am Staatstheater Kassel), Katja Brunner („Die Kunst der Wunde“, Schauspiel Leipzig), Caren Jeß („Die Katze Eleonore“, Staatsschauspiel Dresden) sowie Clemens J. Setz („Der Triumph der Waldrebe in Europa“, Schauspiel Stuttgart).

Roland Schimmelpfennig wieder bei den Kinder-Stücken

Bei den ebenfalls mit 15.000 Euro dotierten Kinder-Stücken gab es mit 35 neuen Texten weit weniger Bewerber. Alle Stücke, so Dora Schneider als Sprecherin des Auswahlgremiums, arbeiteten stark mit Phantasien, hätten surreale bis märchenhafte Züge und bewegten sich „fern von pädagogischen Gebrauchstexten“. Hier gehen fünf Kandidaten ins Rennen: Marc Beckers „Der Hase in der Vase“ (Marc Becker, Oldenburgisches Staatstheater), Roland Schimmelpfennigs „Märchen von der kleinen Meerjungfrau“ (Theater Heidelberg), „Luft nach oben“ (Fabienne Dür, Stadttheater Gießen), „Kirschrot Galaxie“ (Anah Filou, Theater am Kästnerplatz Saarbrücken) und „Lahme Ente, blindes Huhn“ (Ulrich Hub, Theater junge Generation Dresden). Zudem gastiert bei den Kinder-Stücken das Staatstheater Hannover mit „Vater unser“ nach Angela Lehner, ausgezeichnet mit dem Jugendstückepreis des Heidelberger Stückemarkts 2022.

Der Mülheimer Kinder-Stücke-Preis und der Mülheimer Dramatikpreis werden in öffentlichen Jurydebatten am 26. Mai und am 3. Juni vergeben. Der Karten-Vorverkauf für die einzelnen Aufführungen hat begonnen. Schon jetzt gibt es auf der Homepage der Stücke-Tage Filmporträts der nominierten Autorinnen und Autoren.