Essen. Die Wiederbelebung der Rockmusik: Neu, hochgradig unterhaltsam und voller Leidenschaft: „Rush!“, das dritte Album der gefeierten Band Måneskin.
Die junge, sympathisch ungestüme Band aus Rom ist die ideale Entkräftung der Falschbehauptung, dass Rockmusik nur noch röchelnd am Boden liege. Måneskin, die am Freitag, 20. Januar, ihr hochgradig unterhaltsames drittes Album „Rush!“ veröffentlichen, kontern die grassierenden Tristesse einfach mit Spaß, Spielfreude, Impulsivität und einer Riesenladung Leidenschaft.
Natürlich weiß er es besser. „Cool kids they do not like rock“, behauptet Damiano David, jüngst 24 gewordener Frontmann von Måneskin, im Song „Kool Kids“, „they only listen to trap and pop“. Und jedem sei bestens bekannt, dass der Rock’n’Roll ohnehin längst tot sei, heißt es weiter im Text. Doch Damiano ficht die vermeintliche Irrelevanz des in die Jahre gekommenen Rock’n’Roll selbstredend kein bisschen an, und so beendet er den Refrain mit einem inbrünstig gebrüllten hingerotzten und vor Selbstironie wie stolzem Trotz erfüllten: „But I don’t give a fuck about being a cool kid.“ Ist ihm doch schnurzegal, ob er jetzt cool ist oder nicht.
Måneskin ist die derzeit wohl angesagteste Rockband überhaupt
Das kann es ihm auch sein. Damiano, Bassistin Victoria De Angelis, Gitarrist Thomas Raggi und Schlagzeuger Ethan Torchio (alle sind sie zwischen 22 und 24 Jahre alt) sind derzeit die global gesehen wohl angesagteste und am meisten gefeierte Rockband überhaupt, manche sehen in den vier Schulfreunden aus Rom gar die Wiederbeleber der Rockmusik schlechthin. „Wir haben allen Ungläubigen gezeigt, dass wir keine Sternschnuppe, sondern ein neuer Planet sind“, sagt De Angelis. Das Sonnensystem, in dem sich Måneskin tummeln, existiert freilich seit Jahrzehnten.
Das Quartett erfindet die Rockmusik nicht neu, sondern rührt aus den bekannten Zutaten eine Musikmischung an, die gewissermaßen alle geschmacklichen Vorlieben befriedigt. Sie spielen direkten und hochgradig verführerischen Rock’n’Roll wie in „I Wanna Be Your Slave“, Funk-Rock wie in ihrem bislang größten Hit, dem The-Four-Seasons-Cover „Beggin‘“ oder dramatisch-mitreißenden Glam-Rock wie in „Supermodel“, der schon im vergangenen Jahr veröffentlichten Single ihres neuen, dritten Albums, das sie unter anderem mit Starproduzent Max Martin (Britney Spears) in Los Angeles aufnahmen.
Måneskin-Album „Rush!“ mit Für-jeden-was-dabei-Repertoire
Das dementsprechend kommerzielle Für-jeden-was-dabei-„Rush!“-Repertoire beinhaltet nun Punk wie in „Kool Kids“, modernen Hardrock wie in „Gossip“, einer Kollaboration mit Rage-Against-The-Machine-Gitarrist Tom Morello, Mitgröl-Hymnen wie „Gasoline“, Achtzigerjahre Powerballadenkitsch wie „Timezone“ sowie stark über den Bass kommende Pop-Hits wie „Mammamia“ und „Own My Mind“.
Ja, sie schöpfen das Spektrum wirklich aus und stellen Progressive-Rock wie „La Fine“ neben, und das ist eine neue Entwicklung, ein paar wunderhübsche und herzschmelzend verzweifelte Balladen wie „If Not For You“ oder ganz besonders „The Loneliest“, bei dem Damianos vehemente Stimme besonders eindrucksvoll zur Geltung kommt.
Album „Rush“ mit 17 neuen Måneskin-Songs
Siebzehn Songs umfasst „Rush!“, drei davon auf Italienisch, und es bleibt so gut wie keine Nische innerhalb des Rockgenres unausgeleuchtet. Irre viel Spaß macht die Platte mit ihrer rebellisch-unangepassten Over-the-Top-Attitüde auch. Immer zwinkert irgendwo ein Auge, an gleich mehreren Stellen etwa macht sich die Band über den ihr gern unterstellten Drogenkonsum lustig.
Tatsächlich gehen diese – übrigens sehr freundlichen und höflichen – jungen Menschen ganz gern Nachtleben-Luft schnuppern. Allein in den vergangenen anderthalb Jahren haben sie unter anderem mit Slash und Axl Rose von Guns’n’Roses und den Red Hot Chili Peppers gefeiert, mit Coldplay-Sänger Chris Martin und seiner Freundin gefrühstückt und landeten, eher durch Zufall, auf einer Party im Haus von Madonna, wo es dann lustiger als erwartet gewesen sei.
Måneskin beeindruckte als Sieger des ESC
Aber das Herz dieser Band sind keineswegs Dekadenz und Hedonismus, sondern das Können der vier. Das Quartett, das 2016 erste Straßenkonzerte in Roms berühmter Via del Corso spielte, 2017 bei der Castingshow „The X Factor“ mitmachte und 2021 erst das Sanremo Music Festival und dann – mit der Nummer „Zitti e buoni“ – den ESC gewann, bietet ein wirklich mitreißendes, energiesattes Vergnügen.
So war das Konzert im Circus Maximus vergangenen Juli in Rom, zelebriert vor mindestens 70.000 Zuschauenden inklusive Angelina Jolie, Russell Crowe und dem Autor, der schiere Triumph. Damiano David gockelte grazil über die Bühne wie eine Kreuzung aus Marc Bolan, David Bowie, Mick Jagger, Iggy Pop und Freddie Mercury, und auch die übrigen drei erwiesen sich musikalisch wie optisch als weit mehr als nur Ergänzungsspieler. Bis auf den Drummer sprangen alle Måneskin-Mitglieder in die vollständig euphorische Menge, und außer Bassistin Victoria, die ihr Top (entgegen ihrer Gewohnheit und wohl als kleine Konzession an den benachbarten Vatikan) anbehielt, waren alle obenrum nackt.
Måneskin spricht sich für Feminismus und LGBTQ-Rechte aus
Dabei haben sie durchaus ein Faible für Mode. Beruflich kleidet sich die Band in Gucci (deren Kreativdirektor Alessandro Michele ein guter Freund ist), man trägt gern Netzstrumpfhosen, Make-up (auch die Jungs) und zelebriert souverän wie glaubhaft eine gewisse sexuelle Fluidität. Dass sich die haltungs- und meinungsstarke Band für Feminismus, LGBTQ-Rechte und – zumindest in besagter, heißer römischer Nacht – gegen Extremismus und Kriegstreiberei ausspricht, kommt bei den überwiegend jungen bis sehr jungen Fans ebenfalls bestens an.
Man könnte jetzt also schreiben, Måneskin sei die Zukunft der Rockmusik, in Wahrheit aber sind die vier Freunde längst deren unmittelbare Gegenwart. Die Europatournee, die Ende Februar in Italien startet, ist de facto ausverkauft, bis kurz vor Weihnachten spielte man noch vor vollen, großen Hallen in den USA, wo die Band für einen Grammy als „Best New Artist“ nominiert ist, mittlerweile wurden die Songs von Måneskin fast so oft gestreamt wie es Menschen auf der Erde gibt.