Hagen. Francesco Nappa traut sich, „Giselle“ in die Gegenwart ins Milieu der Umweltaktivisten zu transportieren. In jedem Fall sehenswert.

Jede Zeit hat ihre drängenden Themen. Möglicherweise tanzt die Welt tatsächlich gerade am Abgrund zu einer Klimakatastrophe. Für Francesco Nappa, ab Sommer Chef-Choreograph am Theater Hagen, Anreiz genug, einem Ballett-Klassiker einen nachhaltig grünen Anstrich zu verpassen. Mit „Und immer tanzt… Giselle“ feierte am Samstagabend die Hagener Tanz-Company Premiere. Eine höchst sehenswerte Annäherung, die es zu sehen und über die es zu diskutieren lohnt.

Im Hagener Stück spielt die tragische Liebe der Bauerntochter Giselle und des Adligen Albrecht nicht mehr im 19. Jahrhundert, als Bürgerliche noch darum kämpften, dem Adel ein paar Rechte abzutrotzen und Augenhöhe zu gewinnen. In Nappas Choreographie ist Albrecht ein mächtiger Bauherr und Architekt, der durch seine kapitalistische Brille in der unberührten, grünen Heimat Giselles allein lukratives Bauland erkennt.

Fantastisches Bühnenbild

Giselle und ihre Freunde sind bei Nappa eine Gruppe vielleicht leicht naiver Umweltaktivisten, die ihr Biotop vor der eigenen Haustür pflegen und schützen wollen. Albrecht und Giselle, die Protagonisten aus zwei völlig unterschiedlichen Welten, kommen sich auch bei Nappas Interpretation nahe. Das kann auch dieses Mal nicht gut gehen.

Choreograph Francesco Nappa verlegt Giselle in die Gegenwart. Das gut harmonierende Ensemble wird zu Umweltaktivisten. Bühnenbild, Licht und Kostüme sind grandios. Die Produktion lässt Raum für Diskussionen.
Choreograph Francesco Nappa verlegt Giselle in die Gegenwart. Das gut harmonierende Ensemble wird zu Umweltaktivisten. Bühnenbild, Licht und Kostüme sind grandios. Die Produktion lässt Raum für Diskussionen. © Theater Hagen | Bettina Stoess

Die Produktion an der Hagener Bühne beeindruckt von der ersten Sekunde an mit einem fantastischen Bühnenbild, das im zweiten Akt nach ausgiebiger Umbaupause noch einmal übertroffen wird. Alfred Peter zaubert eine beeindruckende, wunderbar mystische Kulisse. Peter nutzt dabei die gesamte Breite der Bühnenfläche. Das macht es dem Publikum auf den äußeren Plätzen leider schwer, das komplette Bild problemlos zu erfassen. Schade.

Unterstrichen wird die Atmosphäre durch den stimmigen Einsatz des Lichts (Martin Gehrke) und sehr originelle Einfälle. Wenn gleich zu Beginn ein Gehilfe des Baumoguls Albrecht als Vermessungstechniker grell ins Publikum leuchtet, möchte man den unbedarften Umweltschützern zurufen: Seht ihr, sie sind Blender! Albrecht und seine nach Gewinnen gierende Gehilfen kommen in leicht düsterem Grau daher. Die Umweltaktivisten erscheinen in raffiniert grün bemooster und knapp bemessener Bedeckung. Kostümbildnerin Tanja Liebermann gelingt es genial, dass sie wie eins mit der Natur wirken.

Untermalt wird die Szenerie von Hagens Philharmonischem Orchester unter der Leitung des 1. Kapellmeisters Rodrigo Tomillo. Die Musiker setzen die Komposition von Adolphe Adam souverän und pointiert um. Durch ergänzende zeitgenössische Kompositionen des italienischen Sounddesigners und Komponisten Fabrizio Festa wird das Stück geradezu belebt. Eine echte Bereicherung.

Die junge Company nimmt das Premierenpublikum im leider längst nicht ausverkauften Hagener Haus mit ihrem Tanz auf eine rund 90-minütige Reise mit. Die auf den ersten Blick beinahe zerbrechlich wirkende Carolina Verra verkörpert ausdrucksstark und voller Energie die tragische Giselle. Stefano Milione tanzt den Albrecht ebenso überzeugend. Im klassischen Ballett ist Giselle das Primaballerinen Stück schlechthin. Francesco Nappa hebt diese Hierarchie auf und lässt allen Tänzerinnen und Tänzern zurecht viel Raum.

Choreograph Francesco Nappa wählt eine optimistische Variante: Albrecht, in der Premiere am 14. Januar 2023 verkörpert von Stefano Milione (Bild), wird im 2. Akt der Spiegel vorgehalten. Er erkennt seine Fehler und bekommt eine zweite Chance.
Choreograph Francesco Nappa wählt eine optimistische Variante: Albrecht, in der Premiere am 14. Januar 2023 verkörpert von Stefano Milione (Bild), wird im 2. Akt der Spiegel vorgehalten. Er erkennt seine Fehler und bekommt eine zweite Chance. © Theater Hagen | Bettina Stoess

Heinrich Heines Fabelwesen, die Wilis, sind in Nappas Interpretation bis an die Grenze des Erlaubten und darüber hinaus gehende selbsternannte Weltenretter. Eine gewagte Adaption. Es lässt sich durchaus darüber streiten, ob diese Übersetzung letztlich wirklich stimmig ist.

Wer Elemente wie den Pas de deux gerne als Spitzentanz erlebt, wird in Hagen enttäuscht. Die Company bietet allerdings absolut inspirierendes Tanztheater und funktioniert als Gruppe eindrucksvoll. Das Premierenpublikum belohnt die Akteure nach Beendigung der ebenso spannenden wie harmonischen Choreographie mit minutenlangem Applaus im Stehen.

Kein plumper Zeitgeist

„Und immer tanzt…Giselle“ in der Hagener Fassung ist ganz sicher einen Abend wert. Die Choreographie richtet sich nicht allein an traditionelles Ballett-Publikum. Francesco Nappas Versuch, sich mit Giselle den brennenden Themen Nachhaltigkeit und Rettung des Klimas zu widmen, sollte als Annäherung verstanden werden. In Hagen wird mit dieser „Giselle“ dem Publikum nicht plakativ oder gar plump Zeitgeist aufgedrängt, sondern ein bemerkenswertes Angebot unterbreitet. Es dürfte einerseits Betrachter geben, denen die Botschaft nicht klar genug herausgetanzt wird. Andererseits mag sich umso mehr Publikum auf die „Umwelt-Giselle“ einlassen, weil sie eben ohne extreme Schrillheit daherkommt.

Nappa gönnt dem Stück einen optimistischen Ausblick. Der Protagonist Albrecht überlebt und erkennt, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit der Natur wichtiger als das Gieren nach Profit ist. Ohne Zweifel hat die Hagener „Giselle“ ein breites Publikum verdient – es gibt viel zu besprechen.

Giselle im Theater Hagen wieder am: 22. Januar (15 Uhr), 28. Januar, 3. und 8. Februar, 8. und 24. März (jeweils 19.30 Uhr), am 23. April (15 Uhr) sowie letztmalig am 18. Mai (18 Uhr).
www.theaterhagen.de