Essen. Wie geschaffen für Gevatter Punk: Iggy Pops neues Album „Every Loser“ strotzt nur so vor Leidenschaft. Der 75-Jährige präsentiert elf neue Songs.
Dreieinhalb Jahre ist es her, seit James Newell Osterberg alias Iggy Pop vollmundig erklärte, keinen archaischen „Rawk’n’Roll“ mehr spielen zu wollen. Das habe er sein Leben lang getan und sich genug Schrammen und Prellungen für schmerzhafte Hüftschäden zugezogen. „Ich bin ein alter Sack, der aufpassen muss, dass er sich nicht übernimmt. Deshalb lasse ich es in Zukunft ruhiger angehen. Ich mache weniger – und vorzugsweise Sachen außerhalb der Rockmusik, die eine Herausforderung darstellen.“
Das hat er, schwört er heute, genau so gemeint, wie er es gesagt hat: Er hat in Kunst- und Underground-Filmen mitgewirkt, sich an Electronica, Chansons, Klassik und sogar Jazz versucht sowie eine Radio-Show auf BBC 6 übernommen. Doch während der Pandemie, in der er mehr Zeit zu Hause in Miami verbrachte als ihm lieb war, habe er sich wieder nach energetischen Liveshows gesehnt. „Ich wollte zurück auf die Bühne – wobei es ein Problem gab: Ich hatte keine passenden, neuen Songs.“
Er schreibt seinen Künstlern Songs exakt auf den Leib
Auftritt Andrew Watt: Der Produzent aus New York betreute bis vor kurzem Pop-Sternchen wie Justin Bieber, Rita Ora oder 5 Seconds Of Summer – ehe er im Jahr 2019 Ozzy Osbournes „Ordinary Man“ übernahm. Seitdem wird er in Anlehnung an einen der erfolgreichsten Produzenten der Musikgeschichte als „der neue Rick Rubin“ gehandelt, arbeitet mit Pearl Jam oder Elton John zusammen und hat ein simples Erfolgsrezept: Er schreibt seinen Künstlern exakt die Songs auf den Leib, die er gerne von ihnen hören würde.
Iggy Pop hat er Ende 2020 getroffen – als Gast bei den Sessions zu Morrisseys „Bonfire Of Teenagers“. Zwischen den beiden hat es sofort gefunkt: „Ich habe ihn als jemanden erlebt, der ein feines Ohr hat und ein brillanter Musiker ist“, so Iggy. „Als er fragte, ob er mir ein paar Songs schreiben könne, war ich gespannt, was er zustande bringt. Das Ergebnis ist fantastisch…“
Musikalischer Adrenalinschub
Nämlich „Every Loser“, Iggy Pops 19. Studioalbum, das am Freitag erscheint – mit elf Songs, die wie geschaffen für Gevatter Punk scheinen. Die das Wilde, Ungestüme seiner ersten Band The Stooges mit melodischem New Wave und Gänsehaut-Balladen kombinieren. Ein musikalischer Adrenalinschub – eingespielt von Duff McKagan (Guns n’ Roses), Chad Smith (Chili Peppers), Stone Gossard (Pearl Jam) und dem verstorbenen Foo-Fighters-Drummer Taylor Hawkins. „Ein Meister seines Fachs“, schwärmt Iggy. „Ich bin stolz, dass er dabei war. Er hat sich auf imposante Weise verewigt.“
Genau wie Iggy selbst, der erklärte Lieblingsthemen wie das moderne Amerika, den Zustand der Unterhaltungsindustrie oder seine Wahlheimat Florida aufgreift – mit Schimpfworten, Schärfe und Wortwitz, die kaum zu überbieten sind. So ist Miami das neue Atlantis. Ein Moloch aus Mördern, Dealern und Prostituierten, der irgendwann dem steigenden Meeresspiegel zum Opfer fallen wird. Die Entertainment-Industrie erstickt dagegen an ihrer Planlosigkeit, das Internet wird von Trollen dominiert, Punkrock ist gesellschaftsfähig (und deshalb irrelevant) und die Jugend flüchtet sich zusehends in Drogen. Kurzum: Die Welt erliegt dem Wahnsinn – und treibt ihn in denselben.
Iggy Pop hat Generationen von Rockfans geprägt
„Every Loser“ ist auch eine bissige Kampfansage eines Mannes, der Generationen von Rockfans geprägt hat, viele Weggefährten – trotz seines exzessiven Lifestyles – locker überlebt hat und seit 2016 erfolgreicher ist denn je. „Post Pop Depression“ war sein erstes Album in den deutschen Top 10, seine Klassiker wie „The Idiot“ oder „Lust For Life“ erzielen plötzlich Millionen-Umsätze. „Ich hatte erwartet, dass meine Karriere altersbedingt nachlässt. Aber das ist nicht der Fall“, so Iggy. „Seit Mitte 60 läuft alles viel besser; das Leben ist leichter. Ich kann und will es nicht erklären, ich genieße es einfach. Hoffentlich hält es noch ein bisschen an.“ Denn: Für März und April plant Iggy eine US-Tour, im Juni spielt er ein Deutschland-Konzert in Mannheim – im Vorprogramm der Red Hot Chili Peppers.