Essen. Nina Hagen verehrt Brecht, singt mit George Clinton und Lene Lovich und bleibt auch im Ukrainie-Krieg Pazifistin – ein Gespräch.
Es ist ein Erlebnis, 59 Minuten lang der geballten Präsenz dieser Frau ausgesetzt zu sein, selbst wenn das Gespräch mit Nina Hagen nur am Telefon stattfindet. Mit tiefer und etwas knarziger Stimme hüpft die 67-jährige gebürtige Ost-Berlinerin, die nun zum ersten Mal seit 2011 mit „Unity“ wieder ein Album veröffentlicht und die in diesem Jahr ihre Mutter Eva-Maria Hagen verloren hat und durch Sohn Otis (32) zur Oma gemacht wurde („Ich fließe über vor Glück über mein Enkelkindchen“), durch ihre kunterbunte Gedankenwelt. Mal redet sie über dies, plötzlich springt sie zu jenem, manchmal beschwört sie, manchmal schimpft sie, manchmal lässt sie Kluges, manchmal Witziges, manchmal Versponnenes von der Leine, zwischendurch schickt sie sogar mal eine Link-Sammlung zur weiteren Vertiefung ihrer Anliegen. Man kann jedenfalls nicht behaupten, dass Nina Hagen, einst als Pop-Rebellin angetreten und heute eine überzeugte Christin, im Alter zur Gelassenheit gefunden hätte.
Und auch „Unity“ selbst steht nie still, ist ein extrem quirliges, sehr gut groovendes und schrilles Album ohne wirklichen roten Faden, jedoch von hohem Unterhaltungswert. Hagen singt über Solidarität („Unity“), wettert gegen den Kapitalismus („Geld, Geld, Geld“), verbeugt sich vor Johnny Cash („Redemption Day“), Bob Dylan („Die Antwort weiß ganz allein der Wind“), ein alter amerikanisches Folk-Klassiker wie „16 Tons“ findet sich neben dem pazifistischen Sprechstück-Wutanfall „Atomwaffensperrvertrag“.
Nina, wie geht es Ihnen?
Tja, wie geht es mir? Das ist ja mal eine Frage, über die könnte ich direkt ein Buch schreiben. Ich bin im Moment unheimlich beschäftigt mit reden, reden, reden über meine neue Platte. Daneben recherchiere ich gerade einige Hintergründe zu meinem neuen Song „Venusfliegenfalle“.
Darin geht es unter anderem um NASA-Ingenieure, die zum Mars fliegen.
Ich finde es total gemein, dass die dortbleiben sollen, wenn sie einmal da sind. Wie sollen die denn da atmen? Überhaupt: Andere Planeten besiedeln zu wollen, organisiert von irgendwelchen superreichen Geldgebern, das ist doch Schwachsinn! Lasst uns lieber dafür Sorge tragen, dass das Leben auf der Erde lebenswert bleibt und mir den Planeten nicht kaputtmachen.
Ihr Album heißt nicht nur „Unity“, also „Einheit“, Sie singen darauf auch viel über Zusammenhalt und Solidarität.
Diese Werte sind doch die Grundlage von allem! Gott, die Liebe, das Leben jetzt und das Leben in der kommenden Dimension, nachdem man die sterbliche Hülle verlassen hat – darum geht es doch beim Menschsein. Ich verstehe unter „Unity“ die Vereinigung im Sinne des Christentums, die in Gottes Liebe gründet.
Wer oder was hat eigentlich Ihre Liebe zum Christentum entfacht?
Einer der ersten Christen, der mich tief beeindruckt und begeistert hat, war Heinrich Böll. Ich habe meinen Freund Heinrich bei Wolf Biermann im Wohnzimmer kennengelernt, er war ein ganz toller Mensch. Ich war tief beeindruckt, wie er mit mir, damals fast noch ein Kind, auf Augenhöhe über Gott und die Welt geredet hat.
Sie haben sich auch in Ihrer Kunst immer wieder mit dem Glauben befasst, haben das Gospelalbum „Personal Jesus“ veröffentlicht und bei Konzerten in den vergangenen Jahren gern vertonte Gedichte von Bertolt Brecht aufgeführt, die alle etwas mit dem Christsein zu tun haben.
Ich fand es superspannend, dass der junge Brecht schon mit 15 als Schüler in Augsburg sein erstes Theaterstück mit dem Titel „Die Bibel“ geschrieben hat. Die Bibel war sein Lieblingsbuch. Und ich habe von klein auf für Brecht geschwärmt, er war gewissermaßen meine Grundlage. Schon mit 11 Jahren war ich regelmäßiger Gast in seinem Theater „Berliner Ensemble“ in Ost-Berlin, wo ich mir den ganzen Brecht von vorne bis hinten reingezogen habe, „Mutter Courage“, „Die Dreigroschenoper“, ich liebe und verehre diese Stücke. Nicht zuletzt wegen Bertolt Brecht ist aus mir die Künstlerin geworden, die ich geworden bin.
Die meisten Leute da draußen halten Sie eher für stark vom Punk beeinflusst.
Ja, und das ist nicht richtig. Ich bin kein Punk. In diese Schublade werde ich immer gesteckt, aber das ist die völlig falsche Schublade. Wenn, dann will ich in die Schublade mit Bertolt Brecht und Kurt Weill rein. Die beiden, dazu Böll und Biermann, diese Menschen haben mich als Teenager geprägt, das sind alles lauter Freiheitskämpfer.
Wie steht es denn aus Ihrer Sicht im Jahr 2022 um die Freiheit?
Boah, noch so eine große Frage. Sie ist nicht selbstverständlich, und wir müssen etwas tun, damit sie uns erhalten bleibt. Unser großer Luxus ist, dass wir uns informieren können. Das sollten wir ausnutzen. Nichts ist so schmerzhaft wie Unwissenheit, denn aus ihr folgt die Durcheinanderwerferei von Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten. Fake News bedrohen die Freiheit. Nichts ist schöner, als sich auf reale Fakten stützen zu können.
Machen die ,sozialen Medien’, in denen viel Unsinn verbreitet wird, Ihnen Sorgen?
Dort sind sehr viele aggressive Menschen unterwegs, die andere Leute beschimpfen, anstatt friedlich miteinander zu diskutieren. Schrecklich finde ich das. Auch ich werde im Netz angefeindet und in Töpfe geworfen, in die ich nicht reingehöre. Man wirft mir vor, transphob zu sein, weil ich mich für eine Selbsthilfeorganisation von Frauen engagiere, die nach oder während einer Transformation ins männliche Geschlecht feststellen, dass dieser Weg für sie nicht der richtige ist und dann zurückwollen in ihre ursprüngliche Identität. Also fürs Protokoll: Ich bin null transphob, meine liebste Freundin ist ein transsexueller Mensch, ich setze mich Zeit meines Lebens für die Anliegen und Rechte der LGBTQ-Community ein. Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin nur noch auf dieser Welt, um mich zu verteidigen und gegen Vorwürfe zu wehren.
Sie sind sogar Opfer von mehreren Fake-Konten im Netz geworden. Leute haben in Ihrem Namen irgendwelchen Querdenkerquatsch gepostet. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Ich habe meine Anwälte angerufen und versucht, mit rechtsstaatlichen Mitteln dafür zu sorgen, dass das aufhört. Ich lasse mich nicht vereinnahmen. Schon gar nicht kann man einfach meine Identität klauen. Inzwischen beteilige ich mich kaum noch an den verbal verletzenden Schlagabtauschen im Internet. Ich komme nicht mehr damit hinterher, alles zu schlichten. Ich will doch einfach nur Freundschaft, Liebe und Musik in die Welt tragen und keine Kontroversen befeuern.
Sie veröffentlichen nun mitten in die aufgeheizte, gereizte Grundstimmung des ausgehenden Jahres 2022 zum ersten Mal seit elf Jahren wieder ein Album. „Steckt hinter „Unity“ Ihr Wunsch, Liebe zu geben und zu teilen und die Menschen soweit wie möglich zu einen?
Ja, das ist meine Antriebsfeder. Mit meiner Kunst möchte ich die Menschen zum Tanzen bringen und ihnen helfen, die Knochen wackeln zu lassen.
Sind Sie stolz auf das Album?
Nein, Stolz ist ein ganz doofes Wort. Der Begriff hat sowas unangenehm Chauvinistisches. Ich bin einfach nur dankbar und glücklich, dass mir diese Platte gelungen und dass sie so gut geworden ist.
Wie kam es zu dem Plattenvertrag mit „Grönland Records“, der Firma von Herbert Grönemeyer?
Ich bin jahrelang falsch beraten und hintergangen worden von einem Manager, dem ich per Vertrag die Macht über mein künstlerisches Wirken gegeben hatte. Von diesem Management ist mir übel mitgespielt worden, ich hatte lange Zeit nicht einmal meine eigene EC-Karte. Seit ich mich von diesem bösen, mir nicht guttuenden Menschen getrennt habe, arbeite ich mit meinem guten alten Freund Stefan Plank zusammen. Stefan ist der Sohn von Conny Plank, der einer der revolutionärsten deutschen Rockmusikproduzenten war, unter anderem mit Kraftwerk und den Eurythmics arbeitete und leider viel zu früh von uns gegangen ist. Stefan kenne ich, seit er ein Junge war, ich war befreundet mit seiner Mutter Christa Fast und habe in Connys Studio ein paar meiner Alben aufgenommen. Ich bin total froh, dass ich mit Stefan zusammen ein Künstlermanagement-Team auf Augenhöhe bilde. Wir sind zusammen zu „Grönland Records“ gegangen, und dort bin ich quasi als altes Zirkuspferd für gut genug betrachtet worden, um mit mir nochmal eine neue Zirkusnummer einzustudieren. Und jetzt haben wir „Unity“.
Für ein altes Zirkuspferd klingen Sie sehr wild und ungestüm auf „Unity“.
Danke vielmals. Das finde ich auch.
Sie haben lange an den neuen Stücken gearbeitet. Der Titelsong kam bereits vor zwei Jahren raus.
Das ist richtig, manche Songs waren eine Weile unter Verschluss, andere sind noch ziemlich frisch. Bei einigen gab es Schwierigkeiten, die Rechte zur Veröffentlichung zu bekommen. Wir mussten kämpfen und Geduld haben, bis ich meine eigenen Studioaufnahmen rechtlich wieder in meinen Händen hielt. Das war hart, aber mit meinem Team und mit Gottes Hilfe habe ich auch das geschafft und endlich mal wieder ein Album fertigbekommen.
„Unity“ ist eine Verbeugung vor der „Black Lives Matter“-Bewegung und eine Zusammenarbeit mit der Funk-Legende George Clinton, „United Women Of The World“ eine Art Reggae-Rap mit der jamaikanischen Sängerin Liz Mitchel und New-Wave-Ikone Lene Lovich, auf „It Doesn’t Matter Now“ ist Bob Geldof zu hören.
Mit Bob war ich beim „Cinema For Peace“-Festival in Berlin ein paar Mal zusammen aus, er hat Liz, Lene und
mich in London im Studio besucht, als wir „United Women Of The World“ aufnahmen und mir seinen Song quasi geschenkt. Er war ihn vorgesungen, ich habe ihn nachgesungen, alles war sehr unprätentiös. George Clinton kenne ich seit meiner Zeit in Los Angeles. Er ist ein Freund der Red Hot Chili Peppers, mit denen ich auch eng befreundet war. Er hat mir auf den Anrufbeantworter gesprochen, „Hey Nina, this is George calling“, und ich habe das dann gesampelt. Auch mein Sohn Otis ist auf dem Album vertreten. Als er fünf oder sechs Jahre alt war, hat er „Every day is dinner time, come on over, don’t be shy“ gerappt. Wir haben seine Worte in der guten Hoffnung auf „Open My Heart (Dinner Time)“ gesampelt, dass es eines Tages auf der Erde keine Hungersnot mehr gibt und alle Kinder ihre Freunde zum Abendessen einladen können.
Was löst der Krieg in der Ukraine in Ihnen aus?
Seit ewigen Zeiten rufe ich zu friedlichen, diplomatischen, menschlichen Diskursen auf. Heutzutage würde man mich wohl wieder beschimpfen als Schwerter-zu-Pflugscharen-Romantikerin. Eine Freundin von mir hat neulich so ein lustiges Wort gesagt, sie meinte, wie sind „Dreckspazifistinnen“. Leute, die sich für Frieden und für Friedensverhandlungen einsetzen, die werden gerade überhaupt nicht ernst genommen. Diese Welt hat nicht viel übrig für Menschen, die keinen Bock auf Waffen und auf Rüstung haben.
Deutschland hatte mit allem Militärischen ja auch viele Jahre lang nur wenig am Hut. Das hat sich jetzt durch die aktuellen Umstände notgedrungen verändert.
Ich bin schrecklich enttäuscht darüber, wie sich die ganze Weltpolitik wegentwickelt hat von einem friedlichen Miteinander. Mein guter Freund Dennis Kucinich, der zwei Mal in den USA um die Präsidentschaft gekämpft hat, in Cleveland/ Ohio der jüngste Bürgermeister in der Geschichte der USA war und jahrzehntelang als Kongressmitglied für die Demokraten im Senat saß, ist auf gleich drei der neuen Songs vertreten. Bei „16 Tons“ habe ich Worte von ihm gesampelt, und bei „Atomwaffensperrvertrag“ ist er mit Ausschnitten aus einer Rede auch mit dabei. Dennis jedenfalls hat sich immer für den Frieden eingesetzt. Es erfüllt mich mit Glück, dass es Menschen wie Dennis Kucinich gibt, die sich nicht verbiegen lassen, und die sich für friedliche und diplomatische Mittel einsetzen, um Menschenleben zu schützen. In einer Zeit, in der alle Knöpfe in Richtung Eskalation gedreht werden und sich die meisten in der Politik von der Diplomatie abwenden, sind konstruktiv denkende und handelnde Menschen wie Dennis wichtiger denn je.
Sie haben vor über zwanzig Jahren in der Ukraine das Kinomärchen „Wasilisa, die Schöne“ gedreht. Wie erinnern Sie sich an die Zeit?
Wir haben in einem Hotel auf der Krim gewohnt. Auf der ganzen Halbinsel habe ich die tollsten Orte kennenlernen dürfen. Ich habe dort mit Russen und Ukrainern zusammengearbeitet, es herrschte eine friedliche Koexistenz. Umso schmerzhafter ist es heute für mich, festzustellen, dass das alles in den Wind geblasen wurde mit kriegerischen Handlungen. Das ist eine Riesenenttäuschung. Ich bin nicht blind auf die Welt gekommen und habe gesehen und miterlebt, wie es meinen vom Zweiten Weltkrieg traumatisierten Eltern ging. Was sie für eine große Lebensfreude entwickelten, als der Krieg vorbei war. Und jetzt soll das alles wieder losgehen? Ich bleibe dabei, ich sage nein zur Aufrüstung und zum Kriegsgeschrei.
„Die Antwort weiß ganz allein der Wind“ ist Ihre deutsche Version von Bob Dylans Protestlied „Blowin‘ In The Wind“. Der Song stammt aus dem Jahr 1963.
Und ist vollkommen zeitlos und topaktuell. Bob Dylan ist ebenfalls Christ, und wenn man seine fantastischen Lieder hört, besinnt man sich darauf, wer man ist: Wir sind Gottes Kinder. In Jesus Christus finden wir das ewige Leben in Frieden, Freude, Kreativität und Freiheit. Die frohe Botschaft lautet: Wenn wir zusammenhalten, können wir Freiheit und Frieden auf Erden schaffen. Aber das wird nicht gelingen, so lange die Superultrareichen nicht teilen und nicht einmal anständig ihre Steuern bezahlen wollen. Die wollen sich einfach nicht von mir bekehren lassen (lacht).
Behalten Sie trotz allem Ihre Zuversicht?
Als Christin kann ich meine Zuversicht gar nicht verlieren. Ich glaube volles Rohr an die Liebe. Gott ist Licht ohne jede Finsternis, er ist Quell allen Lebens. Wenn wir uns nur einfach gegenseitig liebhaben könnten, dann werden sich unsere versteinerten Herzen erweichen.
Freuen Sie sich auf Weihnachten?
Ich freue mich vor allem darüber, dass ich am Leben bin, dass es mich gibt, dass es meine Kinder gibt, dass es mein Enkelkind gibt, dass es den lieben Gott gibt und dass ich anderen Menschen etwas Gutes tun kann. Auf Weihnachten freue ich mich auch, vor allem auf die Ruhe und das Friedliche an den Tagen.
Über Angela Merkel müssen wir noch kurz sprechen. Was haben Sie sich gedacht, als sie Ihren alten DDR-Hit „Du hast den Farbfilm vergessen“ für ihren Großen Zapfenstreich zum Abschied aus dem Kanzleramt ausgesucht hat?
Ich war überrascht – so wie die meisten anderen Menschen auch. Aber es ist natürlich ihre Sache, welche Songs sie für ihr Leben als schön und wichtig und wegbegleitend ansieht.
Sie haben nur einmal persönlich mit Merkel zu tun gehabt, 1992 bei einem gemeinsamen Auftritt in einer TV-Talkshow. Die Diskussion bei „Talk im Turm“ drehte sich um Therapiemöglichkeiten von Suchtkranken. Sie hatten unterschiedliche Ansichten, und man kann es nicht anders sagen: Sie sind ausfällig geworden.
Ich bekam von ihr auf meine Fragen keine Antworten, sondern nur so einen teilnahmslosen Blick. Dann bin ich ausgeflippt und nach Hause gegangen. Heute tut es mir leid, dass ich geschrien habe und nicht sachlich geblieben bin. Meine Geduld war einfach am Ende.
Sind Sie mit den Jahren versöhnlicher geworden?
Christin zu sein ist eine Lebensschule. Man wird nie ein perfekter Mensch sein, aber man übt sich darin, zu schlichten statt zu richten. Es gibt Leute in meinem Alter, die machen andere immer noch lautstark und cholerisch nieder, sie maßregeln und demütigen, und es ist furchtbar, mitanzusehen, wie Menschen anderen Menschen Angst einjagen. Dass ich so ein Mensch nicht mehr bin, verdanke ich meinem guten Ratgeber, der Bibel. Ich habe gelernt, Böses nicht mit Bösem, sondern immer nur mit Gutem zu beantworten.