Essen. Die neuen „Schauergeschichten“ von Péter Nádas erzählen mit vielen Stimmen aus dem Ungarn des Jahres 1967 von der Wucht menschlichen Schicksals.

Das ungarische Dorf, das in diesem grandiosen Roman kaum verlassen wird, hat keinen Namen. Es liegt so nah an der Donau, dass man sich auf zwei Hochwasser im Jahr verlassen kann. Deswegen ist eine Senke voller Moos und Flechten die von der Kolchose unberührte Badestelle geblieben. Ansonsten hat keiner mehr einen richtigen Besitz wegen der Kollektivierung der Landwirtschaft: „die maßgeschneiderte bürgerliche Welt gab es nicht mehr“.

Wir sind im Sommer 1967 zuzeiten des sozialistischen Kádár-Regimes. Alle schuften auf den Feldern. Ziel ist es, arbeitend das Ende der Zeile zu erreichen. Dann geht es wieder von vorn los. Die Waren kommen mit dem Morgenschiff nach Buda auf den Markt. Äpfel, Himbeeren und Erdbeeren. Es gibt eine Kolchosbaumschule und viele Hektar Fenchelplantage einer Versuchswirtschaft. Keiner hat Zeit wegen der vielen Arbeit.

Zielscheiben sexueller Begierde

Es gibt einen Pfarrer, einen Arzt, einen Lehrer, den Bäcker im Nachbarort und einen Polizisten. Einer züchtet Bienen und kämpft irgendwann gegen schwarze afrikanische Hornissen. Überhaupt kämpfen alle in dieser archaischen Landschaft, vor allem die Frauen. Sie sind Zielscheiben der sexuellen Begierden der Männer, die ihnen dauerpotent hinterhersteigen. Für all das findet der Pfarrer seine Formel: „Die Anzahl ihrer Emotionen war begrenzt, sie hatten nicht so viele Variationen, dass ihm die Bestandsaufnahme dessen, was sie miteinander anstellten und wie sie es anstellten, unmöglich gewesen wäre.“

Es ist die Haltung des Autors. In seinem kapitellosen Roman schafft Péter Nádas eine solche Bestandsaufnahme, indem er aus nicht gekennzeichneten Dialogen ein Stimmengewirr entwickelt, bei dem jede Aussage durch die nächste relativiert wird. So entsteht schließlich in einer geradezu antiken Einheit von Ort und Zeit das präzise Bild eines Dorfes. So werden die Ereignisse nicht erzählt, sondern eingekreist. Wenn Nádas in aller Ausführlichkeit ein genaueres Bild der Gegend und ihrer Bewohner wachsen lässt in einer ganz langsam voranschreitenden Handlung, erweist er sich wieder als einer der ganz großen Prosaautoren unserer Zeit.

Péter Nádas ist gerade 80 Jahre alt geworden

Péter Nádas ist am 14. Oktober achtzig geworden. Sein neuer Roman zählt mit knapp 600 Seiten zu den eher schmalen Büchern in seinem Werk und ist doch wieder ein großer Wurf. Man braucht einige Zeit, um in diesen Dorfroman mit Horrorelementen hineinzufinden, um in sein ineinander geschnittenes Palaver nebst eingelassener Kabinettstücke so einzutauchen, dass man zunehmend gebannt folgt. Doch dann entwickelt der Roman einen unwiderstehlichen Sog. Dreck und Intrigen, Geilheit und Egoismus, Demütigungen und unbeherrschbare Brutalität entwickeln dann eine Wucht von geradezu klassischem Tragödienformat. In immer neuen Varianten wird davon erzählt, „dass der eigene Körper die größte Strafe fürs ganze Leben ist“.

Die 79-jährige Teres Várnagy stammt aus einem alten Schiffbauergeschlecht und wurde als gefallenes Mädchen verstoßen, als sie einen unehelichen Sohn bekam. Als Putzfrau in der Psychiatrie hat sie viel gesehen und doch ihre Würde bewahrt. Margit Fabius kommt alle Jahre mit ihrem an Kinderlähmung leidenden Sohn Mischike zu ihr in den Urlaub. Der hatte an der Badestelle Piroschka Mirák im gelben Bikini gesehen und kriegt sie nicht mehr aus dem Kopf. Die studiert Heilpädagogik, ist begehrt und weist die Männer ab, was sie zur Heldin macht. Sie hat sich die Fähigkeit zur Empathie bewahrt und wird zu einer unvergesslichen Frauenfigur, als sie sich der Macht ihres Körpers bewusst wird.

Der Pater und die Lehren der alten Kirchenväter

Da aber steuert dieser Roman „über die Auswirkungen des großen menschlichen Opportunismus“ schon in sein unausweichlich tragisches Finale. Zu dem gehört es auch, dass Pater Jónás die Lehren der alten Kirchenväter studiert und verinnerlicht hat. So hat er gelernt, nicht nach den Sternen zu greifen, sondern sich mit der lebenden Substanz zu befassen. Das muss auch zu Kollisionen mit seinen Brüdern im Geiste führen, die sich arrangiert haben. Inmitten der erschütterten Seelen mit ihren gefährlichen Leidenschaften ist er wie ein Supervisor bei der Psychoanalyse.

Was an Péter Nádas‘ Roman so besticht, ist das minuziöse Herauspräparieren der Triebkräfte allgemeiner menschlicher Geworfenheit in die Umstände. Das hebt sein gewaltiges Buch weit hinaus über eine bloße historische Bestandsaufnahme des Kádár-Ungarns hin zu allgemeiner Gültigkeit.