Bochum. „Hier küsst die Kultur die Wissenschaft“, sagt Sunhild Kleingärtner über das Bergbau-Museum in Bochum. Ein Gespräch über ihre neue Wirkungsstätte.

Die Besucher auf dem Förderturm des Bergbau-Museums sind begeistert von der Aussicht an einem klaren Herbsttag – und machen sofort Platz für Sunhild Kleingärtner, auch wenn sie gar nicht wissen, dass sie die Chefin hier ist. Im Sommer hat sie angefangen, aber vor einem Interview wollte sie erst einmal das Haus kennenlernen, mit Praktikantentagen an der Kasse und anderen Einblicken. Zum Gespräch mit Jens Dirksen wechselte man aber lieber in jenen Saal der Dauer-Ausstellung, in dem Seltene Erden von allen Seiten beleuchtet werden, auch im Handy.

Frau Prof. Kleingärtner, Sie haben zuvor in Bremerhaven gearbeitet. Was ist anders in Bochum?

Susanne Kleingärtner: Ich bin ja Archäologin und denke immer in Schichten. Wir haben hier im Ruhrgebiet die Bergbaugeschichte im Untergrund und dann kommen noch einmal zwei Schichten drüber: die Kulturszene und die Wissenschaftslandschaft, und wenn Sie vom Weltall heruntergucken, haben Sie das Fördergerüst des Deutschen Bergbau-Museums Bochum als eine Nadel mittendrin, im Zentrum. Hier küsst die Kultur die Wissenschaft, es ist hier alles nahe beieinander – wenn man das Verkehrsmittel klug wählt und nicht immer nur mit dem Auto unterwegs ist. Es gibt immer noch eine dynamische Stimmung, auch wenn der Beginn des Strukturwandels schon eine Weile zurückliegt. Hier geht was.

„Und wenn Sie vom Weltall heruntergucken, haben Sie das Fördergerüst des Deutschen Bergbau-Museums Bochum als eine Nadel mittendrin“, sagt Sunhild Kleingärtner.
„Und wenn Sie vom Weltall heruntergucken, haben Sie das Fördergerüst des Deutschen Bergbau-Museums Bochum als eine Nadel mittendrin“, sagt Sunhild Kleingärtner. © www.blossey.eu | Hans Blossey

Sie haben das Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven umgestaltet, das ging nicht ohne Knirschen ab. Wie blicken Sie darauf zurück?

Es war eine gute, erfahrungsreiche Zeit. Wir haben zwei Evaluierungen durch die Leibniz-Gemeinschaft erfolgreich passiert und haben dem Museum eine neue Ausrichtung gegeben, die dem Leitbild des integrierten Leibniz-Forschungsmuseums entspricht. Was Sie mit „Knirschen“ meinen liegt vor allem an politischen Rahmensetzungen, die in den 70er-Jahren geschaffen wurden, und mit denen ein Umgang gefunden werden muss.

Im Bergbau-Museum sind die Rahmenbedingungen günstiger?

Ja. Hier kann mit Komplexität sehr souverän umgegangen werden.

Sind Sie in diesem Haus angetreten, um Ihre Erfahrungen im Umgestalten anzuwenden?

Ich werde meine Erfahrungen natürlich nicht ausblenden. Das Deutsche Bergbau-Museum Bochum gehört wie das Deutsche Schifffahrtsmuseum oder das Deutsche Museum in München zur Gruppe der acht Leibniz-Forschungsmuseen. Wir alle müssen uns mit der Frage der Digitalisierung auseinandersetzen, mit dem Erhalt von Sammlung und Gebäuden, mit der Provenienzforschung…

…also: wo die Museumsbestände herstammen…

... und mit der Frage, wie wir Publikum für unser Haus gewinnen. Dafür muss jedes Museum seinen eigenen Takt entwickeln. Wir haben am Deutschen Schifffahrtsmuseum ein Forschungsdepot gebaut, gleiches soll ja hier in Bochum an der Gahlenschen Straße passieren. Ich freue mich, meine Erfahrungen auch dabei einbringen zu können.

Und die Ausrichtung auf Georessourcen bleibt Programm?

Die weltpolitische Lage zeigt ja gerade, wie bestimmend Georessourcen für unseren Alltag sind. Das ist ja nicht auf Gas beschränkt, das kann Kohle sein, Rohöl oder anderes. In jedem Auto, jedem Smartphone sind Seltene Erden. Der große Alltagsbezug liegt auf der Hand. Wir thematisieren hier ja auch Fragen wie: Wie viel Energie fließt in was? Wir müssen uns aber auch fragen: Was gibt uns die Erde – und was geben wir zurück? Was machen wir mit Georessourcen – und was machen sie mit uns, auch in sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer, politischer Hinsicht? Wie fügt sich das, was wir hier tun, ein in eine global vernetzte Welt? Damit blicken wir auf unseren Wohlstand, aber auch auf ein Wohlstandsgefälle. Diese ganzen Fragen werden wir in unsere Programmatik mit aufnehmen. Da spielt auch der Steinkohlenbergbau eine Rolle, aber nicht nur. Wir sind ja ein Forschungsmuseum, das Geld von Bund und Ländern bekommt und diese Themenfelder in gesamtstaatlicher und spartenübergreifender Bedeutung erforscht.

Wie geht das?

Wir Forschenden müssen uns die Brille der Besuchenden aufsetzen – und versuchen gleichzeitig, den Besuchenden die Brille der Forschenden aufzusetzen. Wir können und müssen aus diesem Perspektivwechsel lernen. Was interessiert das Publikum, was soll es mitnehmen? Wir wollen zeigen, dass Wissen nicht nur ein- oder zweidimensional ist. Forschung ist nicht geradlinig, Forschung beruht nicht zuletzt auf dem Erkennen von Irrtümern und der Entwicklung neuer Methoden und Fragestellungen, welche zu neuen Erkenntnissen führen.

Ihr Haus ist eines der Museen mit den höchsten Besucherzahlen im Revier, ist Ihnen wichtig, dass das so bleibt?

Die Pandemie hat viel mit Besucherzahlen gemacht. Wie kann man in Schließungszeiten, in denen man nicht als Bildungsort klassifiziert wurde, sondern als Freizeiteinrichtung wie Vergnügungsparks, „am Markt“ bleiben? Noch dazu in einer Zeit, in der sich das Publikum ändert? Früher waren es Bildungsbürger oder Menschen mit einer Berührung zum Bergbau. Jetzt kommen jüngere Generationen, die einen veränderten Bildungsbegriff mitbringen. Hier ändert sich durch Digitalisierung und Soziale Medien derzeit vieles sehr viel schneller als auf den anderen beiden Aufgabengebieten von Museen, dem Forschen und dem Sammeln. Die Schnittstelle zur Öffentlichkeit muss am stärksten und schnellsten weiterentwickelt werden, weil sich Kommunikationsformen, Sehgewohnheiten, Erwartungen verändern. Die Museen haben aber auch darauf reagiert, wollen die Menschen mehr beteiligen und mehr Perspektiven vermitteln, auch die des globalen Südens. Für uns soll das Publikum sehr im Fokus stehen, auch die Interaktion und der Transfer von Wissen.

Was kann, was soll ein Museum?

In Museen liegt die Chance, sich themen- und wissenschaftsgeleitet mit Dingen zu beschäftigen. Da Georessourcen Teil unserer Alltagswelt und wir alle davon abhängig sind, betrifft dieses Thema unsere ganze Gesellschaft. Dennoch spaltet das Thema: manche profitieren von Georessourcen, manche machen die Arbeit, manche leiden darunter – bis hin zur Umwelt, die wir ja nicht so weit strapazieren dürfen, dass es uns zum Verhängnis wird. Das Thema muss also gesamtgesellschaftlich diskutiert und gelöst werden. Und selbst wenn die Museen keine Lösungen umsetzen können, so können sie doch die Wissensbasis liefern, die zu einer fundierten Debatte dazugehören muss. Gegen Fake News und Falschinformationen zu arbeiten, darin sehe ich auch eine Aufgabe von Museen.

Wie passt Ihre Fachdisziplin Archäologie zu einem Bergbau-Museum, das sich in jüngster Zeit als Museum für Georessourcen profiliert?

Archäologie liegt an der Schnittstelle von Geistes- und Naturwissenschaften, unsere Datierungsmethoden sind in vielen Fällen naturwissenschaftlich und die Fragestellungen sind kulturwissenschaftlich. Deshalb finde ich kultur- und technikhistorische Museen so spannend, weil beides aufeinandertrifft. Und der Abbau, die Nutzung und die Folgen von Georessourcen auf unsere Gesellschaft und auf unsere Umwelt sind so alt wie die Menschheit selbst: unsere Technologien haben sich im Laufe der Zeit verändert, nicht aber unsere Interessen.

Sie haben sich als Forschungsgast im Thomas-Mann-Haus in Kalifornien der Frage gewidmet, welches gesellschaftliche Vertrauen Museen heute genießen.

Ohne gesellschaftliches Vertrauen gäbe es keine Museen. Vertrauen ist die Währung von Museen. Das hohe Vertrauen der Gesellschaft in Museen begründet sich in ihrer Dauerhaftigkeit und vielleicht auch darin, dass sie bislang als nicht besonders politisch wahrgenommen wurden. In unserer sich verändernden Welt hat sich aber auch das Museum gewandelt. Bis in meine Kindheit hinein gehörte es zum normalen Bestandteil von Schulunterricht und Jugend. Es hat dann eine Phase gegeben, in der die Schulen andere Schwerpunkte gesetzt haben. Gleichzeitig ist die Vielfalt der Museen größer geworden. Die Kunst besteht nun darin, den Ort Museum für die gesamte Gesellschaft weiterzuentwickeln. Und das Museum stärker zu einem wirklichen Reflexionsort zu machen, an dem auch die Gesellschaft eine Widerspiegelung erfährt, wo man als Person auch das Bedürfnis entwickelt, sich in der Vergangenheit, der Gegenwart und auch in dem, was geplant ist oder Zukunft heißt, zu verorten. Das geht bis zu der Frage, wie können Museen auch Handlungswissen vermitteln, nicht nur Bildungswissen. Museen sind angehalten, Haltung zu zeigen und dabei das Vertrauen der Gesellschaft nicht zu verlieren.

Können Sie das anbieten, was wichtig ist für die Gesellschaft?

Wir können Wissen, Erfahrungen und Erlebnisse in ihren Überlieferungen anbieten und an die Gesellschaft zurückgeben, also all das, was in der Gesellschaft selbst entstanden ist und was diese ausmacht. Dazu gehören auch Traumata und Verluste. Das hilft uns einzuordnen, warum wir so sind, wie wir sind und welches unsere Grenzen und Möglichkeiten sind, unsere Zukunft zu gestalten. Dazu laden wir die Gesellschaft ein, zu uns zu kommen. Viele gute Vorbilder dafür finden sich in den USA, wo Museen in vielen Fällen niedrigschwelliger und einladender sind. Das Publikum ist stürmischer, lauter, geselliger. Dort sind Museen Einrichtungen zum Anfassen und Mitmachen, keine Bildungstempel.

Und wie ist es mit dem Vertrauen?

Das Vertrauen in Museen ist, im Vergleich zu anderen Institutionen, sehr hoch. Aber wenn Museen jetzt offener, ja politischer werden sollen – müssen wir aufpassen, dass sie dann nicht an Vertrauen verlieren.

Das Bergbau-Museum wurde gegründet, um den Revier-Menschen, die nicht unter Tage gearbeitet haben, zu zeigen, unter welchen Bedingungen ihre Väter, Söhne, Brüder da malocht haben. Das ist heute nur noch historisch, welche Rolle spielt das noch im Deutschen Bergbau-Museum Bochum?

Es ging zugleich auch immer darum, den neuesten Stand der Bergbautechnik vor Augen zu führen. Auch als Schaufenster für die Unternehmen. Es ist noch gar nicht so richtig nach außen gedrungen, wie viel Forschung neben all der Maloche im Bergbau steckt. Und das gilt auch für den Nachbergbau. Und die Belegschaft hier, das sind zugewandte, sehr verlässliche, aufeinander abgestimmte, teamorientierte Menschen. Da guckt jeder auf die Gemeinschaft. Dieses Erbe des Bergbaus wird hier also auch gepflegt. Diesen Nachhall des Bergbaus erlebe ich auch im Alltag hier im Ruhrgebiet. Die Zechentürme sind weg, aber eine Art Grundmentalität ist geblieben. Bergbau findet an abgeschiedenen, oft auch sehr gefährlichen Orten statt, an denen es auf Sicherheit ankommt. Es gibt also ganz viele Dinge, die man vom Bergbau lernen kann. Und das wird bleiben.

Zur Person

Prof. Dr. Sunhild Kleingärtner, 1974 in Wolfsburg geboren, wurde promoviert mit einer archäologischen Arbeit über einen Fund im Wikinger-Hafen Haitabu. Sie habilitierte sich 2012 über die Städtebildung an der südlichen Ostseeküste des Frühmittelalters. Im Jahr darauf wurde sie Direktorin des Deutschen Schifffahrtsmuse­ums in Bremerhaven, bevor sie nach Bochum wechselte. Dort wohnt sie nun auch.