Richie Bravo singt kitschige Schlager an einem kitschigen Ort - der skandalumwitterte Regisseur Ulrich Seidl macht daraus einen großartigen Film.
Vielleicht gibt es keine schlechte Musik, vielleicht wartet sie nur auf den richtigen Zeitpunkt – und die richtige Interpretation. Wie? Das zeigt Ulrich Seidls großartiger Kinofilm „Rimini“. Und darin sein Hauptdarsteller Michael Thomas, der den abgehalfterten, schmierigen Schlagerstar Richie Bravo in seinem erbleichendem Glanz und wachsenden Elend zeigt – und so, dass man ihn trotz allem mag.
Mit einer Fassade wie Rimini: Mehr Versprechen als Substanz, ein Rimini im Novembergrau, in dem der alkohol- und spielsüchtige Richie allabendlich in Hotelfoyers vor maximal drei Handvoll Zuhörerinnen seine Sehnsuchtslieder singt.
Wer sich an den Wrestler mit Mickey Rourke erinnert, erlebt hier so etwas wie ein Alter Ego in einer anderen Disziplin. Der Ring sind die mickrigen Bühnen, auf denen trotzdem Illusionen erblühen müssen, damit die Liebesschnulzen irgendwie über die Realität hinwegtrösten. In dieser wird Bravo konfrontiert mit seiner Tochter, die er ignoriert hat und die nun ihr Recht und vor allem ihr Geld fordert. Geld, das Richie nicht hat. Trotz bezahlter Liebesnächte mit weiblichen Fans.
Seidl gilt als Houellebecq des Kinos – und steht in der Kritik
Ulrich Seidl gilt als Michel Houellebecq des Kinos, der seine Darsteller schonungslos entblößt und mit ihnen dahin geht, wo es weh tut: in die intimsten Bereiche, zu jenen Geheimnissen, über die man nicht reden mag. Oder nur dann, wenn man eh betrunken und nackt ist. Dass seine Arbeitsweise auch für die Darsteller über die Grenzen gehen könnte - dafür hat der „Spiegel“ jüngst Hinweise gefunden.
Ulrich Seidl steht seit etwa einem Monat in der Kritik: Bei Dreharbeiten in Rumänien zum „Bruderfilm“ zu Rimini mit dem Titel „Sparta“ sollen Kinder ausgenutzt und schlecht betreut worden sein, zudem sei den Eltern nicht klar geworden, dass es um einen Film zum Thema Pädophilie gegangen sei. Der fertiggestellte Film wurde daher u.a. vom Filmfest Toronto verbannt. In San Sebastian wurde er gezeigt, Ulrich Seidl blieb dort der Aufführung fern, weist zudem die Vorwürfe zurück. Am 5. Oktober soll der Film u.a. auf dem Filmfest in Hamburg laufen.
„Bruderfilm“ heißt er übrigens deswegen, weil Seidl da den Bruder von Richie Bravo aus „Rimini“ in den Mittelpunkt stellt. Offenbar ebenso lebensnah in allen Schäbigkeit und Großartigkeit, die schon „Rimini“ auszeichnen: Seidl zeigt alles, auch die Dinge, bei denen sich der Betrachter sonst lieber wegdreht oder sich in Ignoranz übt. – und dies in ästhetisch schönen Bildern.
Ihm gelingt es, im Niedergang Richie Bravos herum den Niedergang unserer Zivilisation in den Hintergrund zu schmuggeln: Flüchtlinge sitzen wie schwarze Gespenster am Rande der Szenerie. Eingebettet wird Richies Niedergang in eine Rahmenhandlung um den Tod der Mutter und den in der Demenz verdämmernden Vater (in seiner allerletzten Rolle: Michael Rehberg) im Pflegeheim – auch dies trostlos, aber wahrhaftig. Als der Vater auf dem düsteren Flur die HJ-Hymne „Es zittern die morschen Knochen“ anstimmt, hält Richie dagegen mit „Amore Mio“. Es gibt wirklich für jede Musik einen richtigen Zeitpunkt.