Essen. "Nachtgeschichte" ist das jüngste Stück Lutz Hübners. Intendant Anselm Weber hat die Uraufführung am Schauspiel Essen in Szene gesetzt: eine Familiengeschichte, die Ängste und Zwänge bloß legt, Wut, Verzweiflung und Verletzung.

Lutz Hübner ist ein äußerst produktiver Autor. Mit 45 Jahren hat er mehr als 30 Stücke geschrieben; häufiger als seine Werke werden in Deutschland nur die von Goethe und Shakespeare aufgeführt. Denn Hübner trifft; über die Themen der Gegenwart spricht er mit Geist und Witz.

Im jüngsten Stück „Nachtgeschichte”, das jetzt am Schauspiel Essen uraufgeführt wurde, erzählt er von der Kraft der Familie, die zerstört, was sie schaffen will: Liebe und Bindung als Ort, von dem aus man der Welt gemeinsam begegnen kann. Unter der klaren Regie Anselm Webers lässt sich das harmlos an, als wäre es eine Seifenoper unter dem Motto „Mütter und Töchter”. Doch Hübner legt Ängste und Zwänge bloß, Wut, Verzweiflung und Verletzung.

Familie zelebrieren - mit Streit

Fünf Frauen treffen sich in einem Ferienhaus. Sie tun das jeden Sommer, es ist ihre Art, Familie zu zelebrieren. Sie werden sich streiten, wie jedes Jahr, wie andere zu Weihnachten. Deshalb steht selbstironisch ein bunt behängtes Plastiktännchen auf dem Küchentresen. Niemand beachtet es.

Eine Mutter und ihre Kinder: zwei Schwestern; deren knapp erwachsene Töchter. Und ein Lebensabschnittsgefährte, der als Deus ex machina die Oma rettet, als ihr Streit und Schreierei ans Herz greifen. Nein, das ist nicht lustig; oder doch: die Sorte Lustigkeit, die in Verzweiflung mündet – so, wie streichelnde Hände losprügeln können.

Die Banalität ist die Stärke der Geschichte

Die Geschichte ist banal, das ist ihre Stärke. Sie ist wahr. Es ist ein beklemmendes Stück mit wunderbaren Schauspielern, allen voran Jutta Wachowiak. Entrückt in Erinnerung und altes Leid, beschwört sie eindringlich die Geister, die sie nicht schlafen und nicht leben lassen. Neben ihr glänzen Katharina Linder und Bettina Engelhardt als Töchter und Friederike Becht und Barbara Hirt als Enkelinnen. Holger Kunkel bildet als einziger Mann ein stilles Gegengewicht.

Die alte Frau hält sich ihre Töchter vom Leib. Sie will nichts von ihnen wissen und gibt ihnen nichts von sich preis. Sie ist auf stille Weise renitent: geht weg, wenn die Töchter gekocht haben, beleidigt sie. „Du hast zugenommen”, sagt sie zu der Jüngeren, „hast du Kochen gelernt?”

In dieser Familie kritisiert jeder den anderen, fühlt sich bedrängt oder nicht wahrgenommen; weiß besser, jammert, nimmt Rücksicht und alle Schuld auf sich, behauptet, es wäre gar nichts, ist beleidigt, empfindlich, abwiegelnd.

Ein Leben lang nicht begreifen, warum man noch lebt

Es gibt einen einzigen Moment, da sind sich die Schwestern nah: in der Nacht, als sie sich an ihre Kindheit erinnern. In der Nacht enthüllt sich auch das Geheimnis der Familie; dieser wie anderer. Die Großmutter gibt es der Enkelin preis, einem esoterischen Nymphchen. Dieses merkwürdige, verlachte Kind macht alles richtig. Es nörgelt nicht, stellt keine Ansprüche, stellt die richtigen Fragen: Ist dir kalt? Und: Träumst du von Geistern? Hört zu. Dass es darüber einschläft, ist nicht schlimm, die Großmutter erzählt die Geschichte für sich, vielleicht zum ersten Mal: von Flucht und Bomben, von Toten, auf die man trat. Wie ihre Mutter im Luftschutzkeller schrie, und wie sie die Scham darüber nicht vergessen kann.

So ist das. Man schreit nicht, man lässt sich nicht gehen. Die Töchter wissen das nicht, auch nicht, wie schnell einer tot sein kann, und dass man ein Leben lang nicht begreifen kann, warum man noch lebt. Sie wird es ihnen nicht sagen. Weil sie nicht fragen. So einfach ist das.