Ein Fest der Mimen! Das Premieren-Publikum in Bochums Jahrhunderthalle feiert die konzentrierte Inszenierung „Das weite Land“.
Wohin zieht es den gestressten Großstädter, wenn ihm die Frau, die eigene Fabrik und diverse Gespielinnen zusehends über den Kopf wachsen? Hinauf in die Dolomiten! Erst beim Wandern in den Bergen bekommt Glühbirnenfabrikant Friedrich Hofreiter etwas den Kopf frei, obgleich die nächste Versuchung naturgemäß schon in der Hotellobby wartet.
Von den Sorgen und Nöten des wohl letzten großen Machos der K.U.K.-Monarchie erzählte Arthur Schnitzler in seiner Tragikomödie „Das weite Land“ im Jahr 1910. Die Neuentdeckung durch Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey in der Bochumer Jahrhunderthalle fühlt sich über weite Strecken an wie eine einzige Verneigung vor diesem hinreißend gebauten Fünfakter, der Witz und Tiefgang hat und schon mancher Schauspielgröße zur Sternstunde verhalf. Auch das mag man der heftig umjubelten Premiere gern bescheinigen: Gespielt ist sie tadellos.
Ähnlich wie bei „Der Untergang des Hauses Usher“ im vergangenen Jahr vertraut Frey einmal mehr auf das Fünf-Sterne-Ensemble des Wiener Burgtheaters, das seine erste Liga ins Ruhrgebiet schickt, bevor die Inszenierung Anfang September auch in Österreich zu sehen ist.
Premiere für „Das weite Land“ bei der Ruhrtriennale 2022: Langer Applaus!
Dabei braucht es nicht viel mehr als drei schwere Ledersessel, einen durchsichtigen Vorhang und eben eine Reihe handverlesener Darsteller, um Schnitzlers Text in all seinen Schattierungen zum Leuchten zu bringen. Für die Freunde des reinen Schauspieler-Theaters, die jegliche Inszenierungs-Mätzchen nur als störend empfinden, ist dieser konzentriert gebaute, vollkommen schnörkellose Abend ein Fest.
Obwohl in Schnitzlers Stück ständig jemand fremdgeht und sich einer zu Beginn vor lauter unerfüllter Liebe sogar erschießt, besitzt das Drama erstaunlich wenig Tempo. In erster Linie gibt es schier endlosen Redebedarf zwischen Hofreiter (Michael Maertens), seiner schönen, aber distanzierten Frau Genia (Katharina Lorenz) und den vielen Gestalten, die wie Satelliten um sie herum kreisen und teils süffisant beobachten, wie sich beide immer tiefer in die Krise stürzen. Eifersucht ist hier die einzige treibende Kraft. Einzig Hofreiters Hausarzt Doktor Mauer (Itay Tiran) darf – ähnlich wie bei Tschechow – gelegentlich die bebende Stimme der Vernunft erheben.
Intendantin Frey setzt auf ein meisterliches Ensemble aus Wien
Gewissermaßen auf blanker Platte lässt Barbara Frey ihr Ensemble nah an die ersten Sitzreihen heranrücken. Das weite Rund der Jahrhunderthalle wirkt dabei so eng und dunkel, wie man es selten erlebt hat. Mit der Industriekathedrale szenisch spielen möchte Frey diesmal offenkundig nicht. Erst in den letzten zehn Minuten gibt das Bühnenbild von Martin Zehetgruber den Blick frei auf ein imposantes Alpenpanorama, durch das sich ein riesiger Bohrer frisst. Die Schauspieler verharren hier wie in einem wahnwitzigen Stillleben: Für solche Bilder hat die Regisseurin ein Händchen wie kaum eine andere.
Ein Bild wahnwitzigen Stilllebens: Bühnen-Coup mit riesigem Bohrer
Es dauert, bis Michael Maertens als Wiener Großunternehmer auf Betriebstemperatur kommt. Der begnadete Komödiant legt seine Figur etwas scheuer, zögerlicher an, als man es vielleicht erwarten durfte. Ständig reibt er nervös an seinem Sakko und zieht den Schlips zurecht, während die Welt um Hofreiter herum zu implodieren droht. Katharina Lorenz gelingt derweil das Kunststück, ihrer Genia Stolz und Härte zu verleihen, während sie über weite Strecken beinahe regungslos in einem der tiefen Sessel hocken muss. So viel Ausdruck bei so wenig Spielraum: Das ist die hohe Kunst!
Zu einem kleinen Coup kommt es in einer geschickt angelegten Doppelbesetzung: Bibiana Beglau spielt zwei nicht unwichtige Randfiguren (die Schauspielerin Meinhold und ihren geschiedenen Mann) und verleiht beiden eigene Präsenz. Bis in die Nebenrollen ist der Abend famos besetzt: Nina Siewert ist als Töchterchen Erna eine Erscheinung, auch der junge Felix Kammerer gibt dem unglücklich verliebten Otto eine Menge Tiefe.