Bochum. Packendes Thema, zu unnahbar inszeniert. „Ich geh unter lauter Schatten“ erzählt bei der Ruhrtriennale von der Schwelle zwischen Leben und Tod.

Ein Anfang, der ums Ende kreist. Die Ruhrtriennale 2022 beginnt mit dem Exitus, genauer: Sie will die Schwelle erkunden zwischen dem, was wir alle besitzen und tun (Leben/leben) und dem, wovon wir außer frommen Wünschen oder nüchternen Messungen nicht wissen, was uns erwartet – dem Tod.

Im Zentrum ein Werk, dessen unheimliche Geschichte seinen Reiz speist. Der Franzose Gerard Grisey ist Anfang 50, als er 1998 „Quatre chants pour franchier le seuil“ schreibt. Seine „Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten“ sollen zum Schwanengesang werden. Eine Gehirnblutung nimmt dem Komponisten im selben Jahr das Leben.

Ruhrtriennale 2022 eröffnet mit „Ich geh unter lauter Schatten“ in der Jahrhunderthalle

Als „Musiktheater“ definiert die Triennale das Werk, wuchtig füllt sie Bochums Jahrhunderthalle. Hermann Feuchter führt vier metallene, leiterartige Brücken durch den Raum: Wege zur Todesstunde, die die vier Gesänge von der vorsätzlichen Tötung bis zum apokalyptischen Menschheitsende variieren.

Elisabeth Stöppler, die einst am Musiktheater im Revier einen denkwürdigen Britten-Zyklus inszenierte, führt Regie. Um es gleich zu sagen: Das Thema darf, ja muss eine quälende Dimension in sich tragen. Der zerdehnte und trotz züchtiger 100 Minuten langatmige Abend aber lässt das Publikum vielfach eher dulden, als es mittels Stoff durch und durch zu elektrisieren.

Elisabeth Stöppler inszeniert Gérard Grisey – kunstvoll, aber wenig anrührend

Nehmen wir nur die langen Momente, in denen Stöppler – gewiss auch als Hommage vor der Industriehalle, deren atemberaubende Monumentalität sich auch im hundertsten Theaterexperiment nicht abnutzen will – allein, ohne jede szenische Gestaltung, Musik walten lässt. Das Schlagwerk, das menschengleich einen immer schwächer werdenden Puls erlöschen lässt. Oder eingangs eine Maschinenmusik des späten 20. Jahrhunderts, die selbstbewusst zu kommunizieren scheint mit der abgestorbenen Welt der Bochumer Hochöfen. Aber, ach, der Saal ist heiß und stickig, um mich herum nicken nicht wenige in diesen Sequenzen – und zwar ein.

Die Bilder (brillant ausgeleuchtet von Ulrich Schneider), die Stöppler findet, haben bannende, filmische Qualität. Und doch eignet den wenigsten die Kraft, uns vom Staunen zum Mitfühlen zu führen. Die grauen Kostüme (Susanne Maier-Staufen) von Chor und Orchester übertünchen die Szenen mit nivellierender Unmenschlichkeit der Welten Orwells und Huxleys. Und so charismatisch die vokal herausragende Frauen-Quadriga mit Sophia Burgos, Kerstin Avemo, Kristina Stanek und Caroline Melzer agiert, sie bleiben in vielen Szenen puppenhaft unscharf, mehr Teil einer Versuchsanordnung als individuelle Tragödinnen in der Grauzone von Sein und Nicht-Mehr-Sein.

Musikalisch auf höchstem Niveau: Chorwerk Ruhr und Klangforum Wien

Dass es (so auch in Chor und Orchester) musikalisch luxuriös qualitätsvoll zugeht (das Werk Griseys eskortieren Stücke von Xenakis, Vivier und Scelsi) darf man bei einem derart kostspieligen Kunstfest erwarten. Peter Rundel koordiniert Chorwerk Ruhr und Klangforum Wien vorbildlich, Stöppler macht sie alle auch zu Spielerinnen und Spielern.

Aufs Ganze aber zeigt der Abend eine allzu selbstbezogene Liebe zur Kunst; im Gegenzug ist er zu unnahbar, um ans Herz zu gehen. Der wesentliche Teil des Premierenpublikums (Funktionäre & Friends) applaudierte pflichtbewusst bis zustimmend, Buhrufe steuerten die billigen Plätze bei.