Essen. Neu im Kino: „The Gray Man“ – Ryan Gosling ist ein cooler Held, aber Chris Evans stiehlt ihm als Schurke die Show
Wie ergeht es Leuten, die unversehens auf die Abschussliste geraten? Ein heikles Problem aus der Arbeitswelt findet eine Entsprechung in einer auf Maximalaction getrimmten Kino-Achterbahn, mit der die Regiebrüder Joe und Anthony Russo sich erstmals in Jahren von Marvel abwenden, nicht aber von Superhelden. Die handelnden Figuren, die hier für eine verdeckte Abteilung des US-Auslandsgeheimdienstes CIA in Aktion treten, verfügen alle über eine begnadete Physis mit höchstleistungssportlichen Fitnesswerten, sondern auch eine Ehrfurcht gebietende Widerstandskraft gegen Schmerzen und Kugeln.
In diesem Superheldenkosmos der staatlichen Auftragsmörder ist Zero Six (007 war schon vergeben, wie er einmal zwinkernd anmerkt) eine feste Größe. Dann kommt der Tag, an dem er jemanden liquidieren soll, der auf der Gehaltsliste der CIA steht. Ein kurzes Zögern und ein USB-Stick mit entlarvenden Daten sorgen dafür, dass Zero Six bald auch ein Gejagter ist. Sein Gegner Lloyd Hansen ist ein ausgesprochen ruchloser Kerl, der nichts auf Regeln und Gesetze gibt. Aber was Zero Six wirklich beunruhigt: Er muss immer wieder die Hilfe einer Kollegin in Anspruch nehmen.
Aus den Fängen des Marvel Bosses Kevin Feige zu neuen Ufern
Die neue Regiearbeit der Russos ist eine wilde Sache mit inflationärem Verbrauch an Munition, zerstörten Gebäuden und Fahrzeugen. Die Regiebrüder, die als gelehrige Erfüllungsgehilfen des Marvel-Bosses Kevin Feige zu Erfolgsgaranten wurden, betreiben Action-Entertainment, in dem die Protagonisten diesmal zwar keine Masken und Strampelanzüge tragen, ansonsten aber wird wie üblich Handlungsknappheit mit dreisten Erklärungsversuchen und ausufernden Kampf- und Verfolgungsszenen aufgepolstert.
Ohne die Verbissenheit der ersten drei Bourne-Filme, ohne die erzählerische Finesse der letzten beiden „Mission: Impossible“-Abenteuer wird hier unverschämt viel geklaut, von James Bonds Globetrotting bis zum Duell der Ungleichen in „Rob Roy“. Dass uns der Film trotzdem zwei Stunden lang gut bei der Stange hält, liegt an der profunden Besetzung der zentralen Rollen. Ryan Gosling, nach vier Jahren Pause plötzlich wieder immens fleißig, gibt den ultracoolen Alleskönnerkämpfer; sein Gegner ist Chris Evans, der mit Oberlippenbärtchen und amüsant eng geschnittenen Garderoben geradezu aufreizend lässig eine Schurkenrolle aus dem Ärmel schüttelt, die sogar die hochwirksame Präsenz von Ana de Armas und Jessica Henwick überstrahlt. Billy Bob Thornton gönnt sich einen ebenso eleganten wie leidensreichen Nebenauftritt, und Indiens Superstar Dhanush scheint als einziger in der Lage zu sein, die komplizierte und in viel zu viele Schnitte zerhackte Kampf-Choreografie umsetzen zu können. Eine Woche lang wird der teure Film exklusiv im Kino zu sehen sein, dann wird er ins Streaming gezerrt. Wo er kaum halb so viel Wirkung entfalten wird.