Essen. Zwei neue Sachbücher lassen anders denken über Russland, Deutschland und die Ukraine: „Zeitenwende“ und „Das deutsch-russische Jahrhundert“.
Ob es wirklich ein „deutsch-russisches Jahrhundert“ war, zwischen Kaiser- gegen Zarenreich dort und Kanzler Scholz gegen Zarewitsch Putin hier? Man wird einwenden können, dass es gewiss nicht weniger falsch wäre, im Rückblick vom „US-amerikanischen Jahrhundert“ zu sprechen, auch wenn wir ahnen, dass seine Dämmerung schon begonnen hat. Aber den Blick auf die Geschichte des deutsch-russische Verhältnisses zu richten, wie es der Historiker und einschlägig bewanderte Stefan Kreuzberger mit seinem verkaufsträchtigen „Jahrhundert“-Titel tut, schadet derzeit weniger denn je.
Man blickt anders auf das, was da jetzt in der Ukraine und folgenschwer in der Weltpolitik passiert, wenn man sich vergegenwärtigt, wie extrem die Ausschläge in den wechselweisen und wechselreichen Beziehungen waren. Wie im zaristischen Russland ein Deutschenhass kursierte und der deutsche Kaiser Wilhelm II. nicht nur Lenin mit ein paar Dutzend weiterer Revolutionären im verplombten Eisenbahnwaggon nach Petersburg schleusen ließ, sondern die Revolution auch noch mit der stattlichen Summe 50,5 Millionen Reichsmark finanzierte, um den Kriegsgegner im Osten zu schwächen – und auf diese Weise da Fundament für den Ost-West-Konflikt in der zweiten Jahrhunderthälfte legte.
Hitler boykottierte ab 1933 Sowjet-Öl
Oder dass es die Russen waren, die den Deutschen als Verlierern des Ersten Weltkriegs mit dem Abkommen von Rapallo 1922 das Entree zurück in die Völkergemeinschaft schufen. Oder dass Hitler nach der Machtergreifung russisches Öl boykottierte und der Handelsbilanz der UdSSR damit erheblichen Schaden zufügte – dass aber nach dem Hitler-Stalin-Pakt sogar Don-Kosaken in Deutschland auf Konzertreise gingen. Das Abkommen bahnte ungewollt zugleich die Ausdehnung des Sozialismus und den Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht.
Dass die DDR zum sozialistischen Exerzierplatz wurde, förderte die West-Integration der BRD, und die Adenauer-Reise 1955 nach Moskau mit der von der UdSSR gewünschten Aufnahme von diplomatischen Beziehungen im Tausch gegen die Freilassung der letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangenen bracht Adenauer bei den nächsten Wahlen die absolute Mehrheit. Verhinderte aber den Bau der Mauer nicht.
Dass Michail Gorbatschow an der Spitze der totgerüsteten Sowjetunion die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte, brachte beide Völker einander so nah wie nie zuvor. 30 Jahre später ist das Verhältnis an einem neuen Tiefpunkt angekommen; aber Stefan Creuzberger, der die Geschichte dieses Verhältnisses detailreich, aber anhaltend interessant und aufschlussreich erzählt, eröffnet mit seinem fast banalen, aber höchst plausibel illustrierten Fazit aus der deutsch-russischen Geschichte eine Zukunftsperspektive: „Nichts währt ewig.“
Rüdiger von Fritsch benennt das psycho-politische Trauma Russlands nach 1990
Das psycho-politische Trauma, das der Zerfall der UdSSR in Russland auslöste, ist lange unterschätzt worden. Für Rüdiger von Fritsch, von 2014 bis zu seinem Ruhestand 2019 deutscher Botschafter in Moskau, ist das der Auslöser des Ukraine-Kriegs – zusammen mit der Tatsache, dass sich kein Regierungschef der Welt in der Corona-Pandemie so isoliert habe wie Wladimir Putin. Sein „Denken in historisch-emotionalen Kategorien“ sei aber nicht wahnhaft, sondern folge „einer anderen Rationalität als unseres“ .
Von Fritsch beschreibt die Loyalität der russischen Bevölkerung zu ihrem Präsidenten als Folge der Stabilität, die er nach den gewaltigen Unsicherheiten der 90er-Jahre bis hin zur Zahlungsunfähigkeit des Landes 1998 geschaffen habe. Und der permanenten Meinungsmanipulation über den „dekadenten“ Westen, vor allem via Fernsehen. Putin habe allerdings davon profitiert, dass die radikalen Reformen Boris Jelzins Früchte zu tragen begannen, als er ins Amt kam.
Rüdiger von Fritsch und Stefan Creuzberger plädieren für Härte
Von Fritsch eröffnet vier Szenarien zum Ausgang des Krieges, die von einem Sieg der Ukraine bis zu einer (unwahrscheinlichen) Eskalation zum Dritten Weltkrieg reichen. Er macht aber auch darauf aufmerksam, dass sich Putin schwertun würde, einen Status für die Ukraine zu akzeptieren, der nachteiliger für Russland wäre als der vor dem 24. Februar 2022. Ein Modell könne der Vertrag über die Unabhängigkeit der ehemaligen britischen Kolonie Zypern sein, der die Türkei, Griechenland und Großbritannien als Garantiemächte vorsah. Putin habe sein Land allerdings aus der internationalen Ordnung herausgenommen – ein wesentlicher Unterschied zum „Kalten Krieg“, jenseits der Tatsache, dass die UdSSR, anders als Russland heute, eine Ideologie mit großer internationaler Strahlkraft propagiert habe.
Einig sind sich beide Autoren darin, dass Putins Handeln auf der Gegenseite Entschlossenheit, Bündnistreue und Bereitschaft zur Abschreckung erfordere, Creuzberger erinner an die mit US-Flugzeugen überwundene Berlin-Blockade 1948/49 oder den Nato-Doppelbeschluss. Dazu fordert von Fritsch die Formulierung einer nationalen Sicherheitsstrategie, politisch wie militärisch.