Essen. Fast ein Jahrhundert Leben für einen Jahrhundertschriftsteller: Martin Walser, der Methusalem der deutschen Literatur, wird jetzt 95 Jahre alt.

„Wie anders wird doch ein Mensch, wenn die Wortdecke abfällt von ihm, wenn er sein darf, wie er ist, wenn er nicht in jedem Augenblick einen gedachten Anspruch zu erfüllen sich müht!“ So schrieb der noch junge Martin Walser in seinem Debütroman „Ehen in Philippsburg“, in dem er 1957 von bürgerlicher Doppelmoral in einer sich neu findenden Nachkriegsgesellschaft erzählte, ein Roman, der zwei Jahre später von Günter Grass „Blechtrommel“ überstrahlt wurde und ein wenig zu Unrecht heute kaum noch erinnert wird. Erst mit der Novelle „Ein fliehendes Pferd“ (1977) wurde Walser zu dem Erfolgsautor, als den wir ihn heute kennen: ein Schriftsteller, der vom Autorensein leben konnte, in seinem Haus am Bodensee mit Ehefrau Katharina und den vier Töchtern Franziska, Johanna, Alissa und Theresia. Und der nun, am 24. März, seinen 95. Geburtstag feiern darf – fast ein Jahrhundert Leben für einen Jahrhundertschriftsteller.

In seinem Romandebüt finden sich doch bereits die Grundzüge, Grundkonflikte des ganzen Walser’schen Kosmos, der die Nachkriegsliteratur prägen sollte: Die sich zu eigen gemachte Anspruchshaltung einer aburteilenden Gesellschaft, das gefühlte Scheitern, das Ringen um den eigenen Kern, um die eigene, wahre Stimme. Die allzu oft ein Chor von Stimmen war. Er passte sich an, „vor lauter Angst, Schwäche und Gefallsucht“, so heißt es einmal in einem langen literarischen Selbstgespräch („Statt etwas oder: Der letzte Rank“): „Er erfüllte Erwartungen, die einander nach geltendem Urteil widersprachen“.

Martin Walser: „Die zweifelsfreie Performance ist mir nicht gegeben“

Das habe ihn angreifbar gemacht, „weil sich in mir nicht stritt und ein­ander ausschloss, was in der so genannten Wirklichkeit verfeindet war.“ Kurz: „Die zweifelsfreie Performance ist mir nicht gegeben, weder politisch noch philosophisch“.

So sagte es ein betagter und beinahe zerknirschter, noch immer dünnhäutiger Martin Walser vor wenigen Jahren in einem sehr persönlichen Gespräch mit dieser Zeitung, ein Rückblick auf die Jahre des „Recht­habenmüssens“, des Streitens und Strauchelns und Suchens: Ja, er ist angeeckt, viele Male. Mit seiner Paulskirchenrede von 1998, in der er mahnte, Auschwitz dürfe nicht zur „Moralkeule“, zum Instrument für beliebige politische Zwecke werden, setzte er sich dem Verdacht des Antisemitismus aus.

Der junge Walser schrieb seine Dissertation über Franz Kafka

Später wurde ihm im Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) um Marcel Reich-Ranicki ein Spiel mit antisemitischen Klischees vorgeworfen, etwa von Frank Schirrmacher. Als er noch später über einen der Mitbegründer der modernen jiddischen Literatur, Sholem Yankev Abramovitsh (1835-1917), schrieb („Shmekendike blumen“), wurde dies häufig als Kehrtwende, als Einlenken missdeutet; außer Acht lassend, dass schon der junge Walser 1951 seine Dissertation über Franz Kafka schrieb und Heinrich Heine verehrte.

Wo Martin Walser „steht“, wo auf der politischen Landkarte man ihn verorten soll – dieser Frage hat er sich mit einem Lebenslauf verweigert, der von heftiger Sympathie für die DKP bis hin zur Gastrednerschaft bei der CSU reichte. Die Rechtfertigung aber ist nicht nur im Hinblick auf die Debattenkultur ein Lebensthema Walsers, sondern auch in psychologischer, gar religiöser Hinsicht. In seinen Tagebüchern notierte er in den 80er-Jahren: „Ich darf nicht so sein, wie ich bin. Ich muss mich rechtfertigen.“

Martin Walser wurde 1927 am Bodensee geboren

Den „Anfang der Scheinheiligkeit bei mir“ nennt er ausgerechnet die Beichte in der katholischen Kirche. Geboren 1927 in Wasserburg am Bodensee, wuchs er auf in enger dörflicher Gemeinschaft (sein später Roman „Ein springender Brunnen“ von 1998 erzählt davon sehr anschaulich aus kindlicher Sicht), eine Gemeinschaft, die den Gang zur Beichte obligatorisch machte: „Wenn man als Kind zur Beichte ging, musste man, so der Ausdruck dafür, vollkommene Reue zeigen.“ Aber: „Man kann nicht vollkommen bereuen.“

Studiert hat Walser nach Kriegsende an der Philosophisch-theologischen Hochschule Regensburg und der Universität Tübingen, aber eben nicht Religion, sondern: Literatur, Geschichte, Philosophie. Die Sehnsucht jedoch, die blieb. „Auch wenn es Gott nicht gibt, dann fehlt er mir. Deswegen könnte ich nie Atheist werden. Mir fehlt Gott. Es wäre toll, wenn es den gäbe.“

Martin Walser hat die Leerstellen des eigenen Lebens umkreist

Das Fehlende hat Martin Walser so vielseitig ausgelotet wie kaum ein Zweiter, hat die Leerstellen des eigenen Lebens umkreist, sie seinen Protagonisten zur Last gelegt, hat zugesehen, wie sie sich damit herumschlugen. Von den Bodensee-Romanen der 70er- und 80er-Jahre, deren Figuren nicht selten verwandt, verschwägert, verbunden sind, blieb vor allem „Seelenarbeit“ in Erinnerung: Der magenkranke Fahrer Xaver Zürn, der nachts wach liegt und an seinen Chef denkt, Dieter Gleitze, Direktor der Gleitze-Werke – in dem Bewusstsein, dass Gleitze nicht an ihn denkt, dass er ein kleines Licht ist, unbedeutend. Der Erfolg der Zugezogenen, die Ohnmacht der ursprünglichen Dorfbewohner – wenn es um politische Positionen ginge, müsste man diese Phase in Walsers Werk als eindeutig links bezeichnen.

Die Leerstellen aber waren auch der Antrieb, die Kraft, aus der Walser schöpfte und schuf. „Mir fehlt immer etwas, hat immer etwas gefehlt und wird wahrscheinlich bis zum Schluss immer etwas fehlen“, hat er einmal formuliert. Aus dieser Haltung heraus habe er stets geschrieben, gelebt, gearbeitet: „Den Mangel aufschreiben zu können, in vielfältiger Form, macht mich froh.“

„Ich steh mit dem Rücken zur Gegenwart“

Und so schreibt er weiter, bleibt dran an sich selbst, schenkt uns Innensichten wie im Spätestwerk „Sprachlaub“: „Ich steh mit dem Rücken zur Gegenwart, im Garten verglüht meine Geschichte.“