Essen. Darstellende Künste haben in der Pandemie stark gelitten. Ein Gespräch mit einer führenden Agentur über die Langzeitfolgen für Bühne und Konzert.

Vor zwei Jahren fielen in Deutschland hundertfach die Vorhänge – und blieben lange geschlossen. Was die Langzeitfolgen der Pandemie-Maßnahmen für die Kultur sind, erkunden wir ab heute in einer Serie. Den Beginn macht das Gespräch mit einer führenden deutsche Klassik-Agentur. Lars von der Gönna sprach mit Verena Vetter und Lothar Schacke vom Künstlersekretariat Gasteig.

Blicken wir auf den Frühling 2020. Erinnern Sie sich an den Moment, in dem sie merkten: Hier rollt was an, was uns ganz schwer trifft?

Lothar Schacke (L.S.): Ziemlich genau. Ich war Anfang März mit Lang Lang in Wuppertal, ein Konzert beim Klavierfestival Ruhr stand an, vier Tage nachdem er in der übervollen Thomaskirche Leipzig gespielt hatte. Und dann drehte sich plötzlich alles. Intendant Franz Xaver Ohnesorg musste beim Wuppertaler Oberbürgermeister eine Genehmigung für das Konzert erwirken, ich bin aber schon nicht mehr ins Foyer, weil mir da zu viele Leute waren. Und Lang Lang hat seiner Familie nicht mehr erlaubt, live in den Saal zu gehen. Die saßen dann in der Garderobe vor einem Monitor. Deutlicher ging es nicht. Das nächste Konzert fiel dann schon aus. Das war für mich der Anfang dieser ganzen Misere.

Zwei Jahre später steht die Branche vor einem Scherbenhaufen: Ausgefallene Konzerte kann man ja, wie ausgefallene Weihnachten, nicht in beliebiger Zahl nachholen. Und wenn es nachgeholt wird, verhindert es ein anderes aktuelles...

Verena Vetter (V.V.): Ganz klar: Die abgesagten Vorstellungen sind verloren. Für viele Künstler ist es bis heute ein richtig großes Problem: Jemand, der jetzt in den Startlöchern steht, der wird auf ein Wartegleis geschoben. In diesem Beruf die Motivation oben zu halten, ist extrem schwierig.

Verena Vetter vom Leitungsteam des Künstlersekretariats Gasteig.
Verena Vetter vom Leitungsteam des Künstlersekretariats Gasteig. © Florian Schröter I KünstlerSekretariat am Gasteig | Unbekannt

Ihr Glück ist, dass Sie sehr bedeutende Künstler betreuen. Die haben ein gewisses Polster in Sachen Anerkennung. Aber Sie fördern ja auch die ganz Jungen…

L.S.: Ein Beispiel: Ein junger Dirigent gewinnt einen sehr renommierten Preis. Das ist 2019. Wir übernehmen ihn. Er steht am Anfang seiner Karriere, will durchstarten. Und dann brechen ihm wegen Corona nahezu alle Konzerte weg. Das heißt: Was er kann, kann er nicht zeigen. Eine Karriere können wir aber sozusagen nur aus erklungener Leistung aufbauen.

Können also große Talente durch die Pandemie verloren sein?

L.S.: Mindestens sehr zurückgeworfen. Dann muss man Orchester gewinnen, die ausgefallenen Konzerte mit ihm nachzuholen.
V. V.: Aber das ist schwierig. Die Aura des frischgebackenen Preisträgers ist ja weg, es gibt aus 2021 einen neuen, und dann kommen wir an und sagen „Wollen Sie nicht den Wettbewerbsgewinner von vor zwei Jahren?“
L.S.: Außerdem haben alle Orchester Rückstaus. Bei deren Abbau werden ganz klar die prominenteren Dirigenten bevorzugt, mit denen es man sich nicht verscherzen will. Die Jüngeren sind ganz klar Verlierer dieser Kettenreaktion.

Opern- und Konzerthäuser arbeiten viel mit Gästen. Nach meinen Recherchen haben sich viele in Sachen Ausfallhonorare nicht gerade mit Ruhm bekleckert...

V.V.: Natürlich war es ein großer Kampf um „Kompensationen“. Am Anfang hieß es „höhere Gewalt, es wird nichts gezahlt“. Mit fortschreitender Krise war immerhin klar, dass man die Freischaffenden nicht im Regen stehen lassen kann. Im Konzertbereich kam kaum etwas, in der Oper eher, aber von Haus zu Haus verschieden. Namhafte Häuser haben Sängern als Abfindung für eine komplette Saison angeboten, was sie am selben Opernhaus sonst an einem Abend verdient hätten. Wir haben wirklich Bizarres erlebt; die Gründe, etwas abzusagen, werden unter das Mäntelchen Corona gehängt, in Verträgen muss man wieder sehr genau aufs Kleingedruckte achten. Manchmal war es wie im Wilden Westen.

Lothar Schacke, General Manager beim Künstlersekretariat am Gasteig.
Lothar Schacke, General Manager beim Künstlersekretariat am Gasteig. © Florian Schröter I KünstlerSekretariat am Gasteig | Unbekannt

Haben Sie sich in Ihrer Branche dazu ausgetauscht?

V.V.: Das ist vielleicht einer der wenigen Gewinne der Pandemie: Früher haben Künstleragenturen sehr vereinzelt agiert, es gab nur wenig befreundete. Aber Corona hat uns zusammengeführt. Dieser Zusammenschluss ist ein richtiger Agenturenverband geworden.

Und doch: Welcher Künstler geht schon mit einem bekannten Opernhaus vor den Kadi? Der bekommt Recht, aber danach kein Bein mehr auf den Bühnenboden.

V.V.: Absolut. Das hat unseren Zusammenschluss aber eher bestärkt, wir sind jetzt auch mit den Agenturverbänden in anderen Ländern in Kontakt. Wenn wir jetzt an Häuser zur Problemlösung herantreten, stehen als Absender wir alle. Sie sollen sehen: Wir sind viele!

Eine andere Long-Covid-Erscheinung: Nach zwei Jahren ist ein Teil des treuen Publikums entwöhnt. Kommen die wohl alle zurück?

V.V.: Das ist eine große Sorge. Wir reden – im positivsten Sinne – von einer Routine, ins Konzert zu gehen. Es ist ja auch eine Mühe: etwas, das man zusätzlich tun muss. Nach so langer Zeit existiert diese Routine so nicht mehr. Aber die Zuständigen haben auch darin versagt, die Kulturorte als sichere Stätten zu erklären, denn das sind sie. Dass in München zuletzt 20 Prozent Besucher ins Museum durften, das angegliederte Café aber voll besetzt sein durfte, ist ein Schildbürgerstreich.

Die Kulturszene hat ja durchaus üppige Hilfspakete bekommen. Haben die geholfen?

V.V.: Es gab viele tolle Hilfen, auch wenn sie oft spät ankamen. Die zentrale Sorge, die ich habe: Es wird ein Erwachen nach der Pandemie geben – von anderen aktuellen Krisen ganz zu schweigen. Und dann heißt es : „Wir müssen sparen, weil hinter uns eine so teure Zeit liegt.“ Und dann die Haushalte nicht zuerst im Kultursektor zu kürzen, das wird ein neuer großer Kampf, vielleicht der größere.