Essen. Julia Schochs Roman „Das Vorkommnis“ ist Auftakt zur dreiteiligen „Biografie einer Frau“ und erzählt von den Geheimnissen des Familienlebens.

Jetzt, wo wieder Krieg ist in Europa, wird in den Familien oft gesprochen über das, worüber früher meist nicht gesprochen wurde: Was hat der Großvater an der Front erlebt, was die Urgroßmutter oder die Großtante daheim? Schweigen war die Antwort, denn Schweigen schien die Rettung zu sein. „Ich habe dem Vergessen immer große Sympathien entgegengebracht“, meint auch die Erzählerin in Julia Schochs neuem Roman: „Ich glaube, ich hatte viel übrig für das Schweigen.“

Dann aber führt durch ein „Vorkommnis“ eines zum anderen und zu den versteckten Mustern in einer Familie: Das uneheliche Kind des eigenen Vaters, die unbekannte Halbschwester, ruft der Erzählerin das Porträtfoto einer jungen Französin aus Amiens ins Gedächtnis, das in der Kommode der Großeltern „wie ein heißes, puckerndes Organ vor sich hin existierte“: „Ma­thilde wurde schwanger. Kurz nach der Geburt ihres Sohnes kam mein Großvater an die Ostfront. Sie haben sich nie wieder gesehen.“ Der Junge hieß Pierre. Jahrgang 1942.

Julia Schoch erzählt von „Ahnungen, die aus kurzen Bemerkungen entstehen“

Nein, „Das Vorkommnis“ ist weit davon entfernt, ein Kriegsroman zu sein; die Episode um Mathilde und ihr Baby Pierre aus Amiens aber steht für „all die verschwiegenen Porträts missliebiger oder geheim gehaltener Verwandter in den Buffets, Kommoden oder Wäscheschränken dieser Welt“ – Bilder, die so geheim nicht sind, Wissen, das in einem Winkel der Erinnerung verstaut ist. Es gibt „ungewusst gewusste Sätze“, „Ahnungen, die aus kurzen Bemerkungen entstehen“ oder aus „hingeworfenen Brocken“ – „Wäre ich sonst auf eine Wildfremde zugestürzt, ohne dieses Wissen?“

Denn genau dies tut die Erzählerin, als sie nach einer Lesung in einer norddeutschen Stadt Bücher signiert und plötzlich eine Frau zu ihr sagt: „Wir haben übrigens denselben Vater.“ Hier also ist die Halbschwester, die ihr Vater als junger Unteroffizier vor über vierzig Jahren mit einer Frau zeugte, die „bekannt war bei den Männern des Stützpunktes“, die nicht seine Frau werden sollte, die ihre Tochter alsbald zur Adoption freigab – während er seine eigentliche Familie gründete.

Julia Schochs Roman ist Auftakt zur Trilogie „Biografie einer Frau“

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren als Tochter eines Offiziers und einer Buchhändlerin, verbrachte ihre frühe Kindheit im mecklenburgischen Grenzörtchen Eggesin. Ihr Roman soll als erster Teil einer Trilogie unter dem Titel „Biografie einer Frau“ verstanden werden. Man darf annehmen, dass die Siedlung, die Julia Schoch beschreibt, in den Feldern und Wäldern ihrer eigenen Kindheit steht; womöglich gibt es auch die ältere Schwester, die Julia Schoch in einem früheren Roman („Mit der Geschwindigkeit des Sommers“) sich selbst hat töten lassen. Was ihr die aktuelle Romanschwester noch immer übel nimmt – dabei war der Selbstmord doch nur Fiktion! Raffiniert verwebt Julia Schoch Gelebtes und Erdachtes, um so tiefere Wahrheiten aufzuspüren: Wie wenig wir wissen über die, die uns gezeugt haben;über die, die wir lieben; über uns selbst.

Die Erzählerin scheint nach dem „Vorkommnis“ zunächst gar nicht so sehr betroffen, sie bringt ihre Lesereise zu Ende, fährt nach Hause zu ihren beiden Kindern und ihrem Mann, bereitet sich auf einen längeren Amerikaaufenthalt vor: Am College von Bowling Green, Ohio, wird sie über den deutsch-deutschen Literaturstreit der 90er-Jahre lehren: Kann eine Diktatur „echte“, freidenkende Literatur hervorgebracht haben? Das sehr konkrete äußere Leben aber ist nur die dünne Haut über einer Seele, die auseinanderfliegt.

Denn plötzlich scheint alles fraglich zu sein, es geht um die Traumata der frühesten Kindheit, in der so viele Grausamkeiten „üblich“ waren (den Nachwuchs stundenlang im Kinderwagen auf dem Balkon zu parken, um einkaufen zu gehen) bis hin zu den Enttäuschungen in der eigenen Ehe oder dem Gefühl, als Mutter unzulänglich zu sein. Nichts scheint mehr sicher. Wie war das damals in der Schule mit der Brieffreundschaft zu einer Russin aus Swerdlowsk? War „Julias“ Passfoto nicht „ein bisschen zu sowjetisch“? Noch nicht einmal Swerdlowsk gibt es noch – es ist jetzt Jekaterinburg.

Einmal mehr geht es um „die Geschichte des Ostens mit ihren Beständigen Wechselspielchen“, auch sie hat zur inneren Unsicherheit beigetragen, die die Erzählerin nun mit dem einzigen Mittel zu bekämpfen sucht, das ihr zur Verfügung steht: „Schreiben bedeutet, Einzelteile aufeinander zufliegen zu lassen, damit sie sich zusammenschieben und in der richtigen Weise überlagern, wie bei einem 3-D-Puzzle“