Essen.

Im kommenden April wird Schriftstellerin Katerina Poladjan dann endlich der Nelly-Sachs-Preis verliehen, der ihr im August vergangenen Jahres zuerkannt wurde, aber coronabedingt nicht überreicht werden konnte. Die Jury begründete ihre Entscheidung vor allem unter dem Eindruck ihres Romans „Hier sind Löwen“ von 2019. Seit dieser Woche liegt schon ein neuer Roman der 51-Jährigen vor: „Zukunftsmusik“ ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, der fünfte Roman der 1971 in Moskau geborenen, heute in Berlin beheimateten Autorin.

Im Alter von sechs Jahren kam Katerina Poladjan nach Deutschland, hat parallel zum Studium der Kulturwissenschaften, zum Schreiben und Autorinnensein (inklusive zahlreicher Stipendien) als Bühnenschauspielerin gearbeitet und war für kleinere Rollen in TV- und Kinofilmen besetzt.

Katerina Poladjan schreibt in „Zukunftsmusik“ den 11. März 1985

Wie schon in ihren früheren Werken reist Katerina Poladjan, die 2015 beimIngeborg-Bachmann-Wettbewerb leer ausging, in „Zukunftsmusik“ fiktional ins Herkunftsland ihrer Eltern – und in die Vergangenheit: Wir schreiben den 11. März 1985, wir befinden uns „tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau“. Janka arbeitet nachts in der Glühbirnenfabrik und ist morgens oft zu müde, um ihre Tochter Kroschka in den Kindergarten zu bringen, dann übernimmt ihre Mutter Maria das für sie und betört die übers Zuspätkommen ärgerliche Kindergärtnerin mit Feinstrumpfhosen.

Maria, Janka und Kroschka leben in einem Zimmer, gemeinsam mit Urgroßmutter Warwara. In der Küche der Gemeinschaftswohnung, der „Kommunalka“, stehlen sich die Bewohner gegenseitig Essen aus dem Topf und messen die Größe der Tische genau ab, auf der Toilette benutzt jeder seine eigene Brille.

Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika am Horizont

Matwej Alexandrowisch ist Ingenieur und bedient in einer „streng geheimen Einrichtung“ eine Zentrifuge mit menschlichen Probanden darin. Diese wird nicht gut gewartet, weshalb (womöglich) Janka vergeblich auf die Gitarre warten wird, die Pawel ihr eigens für ihr Konzert besorgen wollte: „ein Kwatirnik, sie allein mit der Gitarre vor zehn, vielleicht zwanzig Leuten“. Also wird Andrej einspringen und Jankas Lieder singen; derweil sich Warwara zum Nachbarn herüberschleicht, dessen Frau als Schlafwagenschaffnerin aushäusig ist.

Ein Netz von Geschichten verbindet Poladjan mit der titelgebenden „Zukunftsmusik“. Die allerdings erst mal betrüblich klingt, Chopins zweite Klaviersonate spielen sie im Radio: den Trauermarsch für einen Toten, der jedoch – wir Leser wissen, was Poladjans Figuren insgeheim ahnen – Platz machen wird für einen anderen, der Gorbatschow heißt und Glasnost und Perestroika bringt.

Märchenwald der eigenen Prosa

Und wenn Janka träumt, ihr Haus müsse geräumt werden, weil es abgerissen wird oder auch umgebaut, wenn sie von glänzenden Gitarren träumt und einer Reise nach Paris, dann fährt Poladjan zwar reichlich sagenhafte Symbolik auf, verliert sich aber nicht im Märchenwald ihrer eigenen Prosa.

„Zukunftsmusik“ klingt nach als ein Werk, das noch seine Zwischentöne trefflich zu setzen weiß.

Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. Roman. S. Fischer, 192 S., 22 €