Hagen. Wie lassen sich Massen manipulieren? Warum funktioniert Erlösung nicht? Das sind die Fragen, die den großen Regisseur hans Neuenfels umtrieben.
Um ein Haar hätte das Publikum erlebt, wie es im Bayreuther Festspielhaus zu einem Krawall, ja einem Pogrom, kommt. Im Jahr 2010 gerieten nach der Premiere von Richard Wagners „Lohengrin“ in der Inszenierung von Hans Neuenfels (Foto) etablierte Herren im Smoking und seriöse Matronen im Samtrock derart außer sich, dass diejenigen, welche die Produktion gut fanden, Angst bekamen. Was war passiert: Neuenfels hatte das Erlösungsmärchen in ein Versuchslabor verlegt. Lohengrin und Elsa waren die Versuchskaninchen, gesteuert wurde der ganze Apparat von Ratten.
Hundertschaft der Chorratten
Diese Ratten, insbesondere die Hundertschaft der Chorratten, entlarvten derart geschickt über die ungewohnte Perspektivbrechung die populistischen Phänomene der Heldenverehrung, dass die solcherart gespiegelten Wagnerianer ihre Wut nicht unter Kontrolle bekamen. Nun ist Hans Neuenfels tot. Der große Theaterkünstler starb am Sonntagabend im Alter von 80 Jahren in Berlin, wie seine Frau, die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar, und sein Sohn Benedict Neuenfels gestern mitteilen ließen. Die Kulturwelt trauert um einen der ungewöhnlichsten und kreativsten Bühnenkünstler.
Dem Thema Erlösung hat er zutiefst misstraut, deshalb hatte Hans Neuenfels lange nichts für die Opern Richard Wagners übrig. Sein Essener „Tannhäuser“ wurde 2008 zum Fanal einer neuen Wagner-Deutung. Nicht Tannhäuser findet Erlösung durch das Opfer von Elisabeth und seinen eigenen Tod, sondern die lustfeindliche christliche Moral kollabiert. Und wieder die Massen, die Chöre. Der Pilgerchor zieht durchs Parkett auf die Bühne, und das Publikum wird nicht vom Schaudern der Ergriffenheit gepackt, sondern von Angst. Wenn diese geballte Massenmacht an den falschen Propheten gerät, bleibt kein Stein auf dem anderen. So hatten wir es ja schon einmal.
Fliegende Hühnerkeulen
Hans Neuenfels, 1941 in Krefeld geboren und nach Stationen in Trier, Krefeld, Heidelberg und Frankfurt in Berlin und Wien gelandet, wandte sich ab 1974 auch der Oper zu. In Verdis „Aida“ von 1980 in Frankfurt zeigte er die Titelheldin als Putzfrau, und vom Rang flogen Hühnerkeulen für die Gefangenen. Das Publikum buhte, was es konnte. Dass es sich dabei um ein frühes Lehrstück über Rassismus handelte, wurde erst später deutlich.
Sehr häufig führten Neuenfels‘ Inszenierungen zu Theaterskandalen, weil der Regisseur das klassische Repertoire gegen den Strich las. Allerdings beschädigte er dabei weder die Stücke noch die Komponisten, sondern hob mit klugen Analysen ihre Aktualität heraus. Sein „Idomeneo“ von 2003 in Berlin wurde erst bei der Wiederaufnahme 2006 zum Politikum. Im Epilog kippt Idomeneo die abgeschlagenen Köpfe von Poseidon, Christus, Mohammed und Buddha aus einem Sack, zum Zeichen seiner Befreiung von der Fremdbestimmung. 2003 störte das niemanden; 2006, in einer veränderten Weltlage, setzte die Intendanz aus Angst vor islamistisch motivierten Anfeindungen die Wiederaufnahme des Stücks nach einer Warnung des Landeskriminalamtes ab. Mozart wurde zum Spielball im Kulturkampf gegen den politischen Islam. Das führte zu derart heftigen öffentlichen Protesten, dass die Inszenierung nach drei Monaten wieder gespielt wurde.
Bewunderung statt Schock
Beim Bayreuther „Lohengrin“ verschwand der Schock über das rättische Verhalten des Lohengrin-Volkes von Jahr zu Jahr mehr gegenüber der Bewunderung für die Fallhöhe, die Analyse und ihre ungewöhnliche Übersetzung in Bilder. Die Ratten brauchen einen Erlöser. Noch schneller lassen sie sich von Intrigen verführen und wollen den Erlöser wieder loswerden. Das „Kreuziget ihn“ liegt bei Neuenfels direkt beim Hosianna.
Zur letzten Spielzeit des „Lohengrins“ 2015 gab es keine Buhrufe mehr. Stattdessen wurde die Produktion mit langem Beifall im Stehen als eine der besten Inszenierungen gefeiert, die je auf dem Grünen Hügel zu sehen war.