Essen. Überwältigen und spektakulär: Regisseur Volker Lösch inszeniert „Aufruhr“ am Grillo-Theater – ein aktuelles Lehrstück über politische Prozesse.

Essens Oberbürgermeister Kühn (Stefan Migge) sorgt sich um die Entwicklung seiner Stadt und insbesondere um einen Stadtbereich ohne eben diese Entwicklung. Er sorgt sich aber wohl auch um die eigene Bedeutung. Zusammen mit Großinvestorin Van Velt (Janina Sachau) und Bauunternehmerin Haussmann (Laura Sundermann) plant er deshalb das milliardenschwere Projekt „Essen 5.0“. Um den zukunftsweisenden neuen Stadtteil, der ökologisch, digital und beispielhaft urban werden soll, zu verwirklichen, muss allerdings der alte samt seiner Bewohner weichen.

„Aufruhr“ am Grillo-Theater beginnt mit einer Vision und endet nach gut drei Stunden (mit zwei Pausen) mit einer Utopie. Die Bürger begehren auf, bilden den Zentralrat der Essener Mieterräte, propagieren eine kleinteilige Demokratie nach dem Vorbild der Pariser Kommune und rufen die Autonome Republik Ruhr aus. „Essen 5.0“ ist gescheitert.

Volker Löschs Inszenierung ist über weite Strecken überwältigend, ja spektakulär

Bis dahin ist eine Inszenierung zu erleben, die über weite Strecken überwältigend, ja spektakulär ist. Auf der zu einem rechteckigen Spielkasten umgestalteten Bühne sitzt der Zuschauer auf Drehhockern, die unweigerlich an betonschwere Absperr-Poller erinnern. Im Mittelgang und zwischen diesen Pollern spielt das Ensemble fast in Tuchfühlung mit dem Publikum, das so einen ungewöhnlich intensiven Eindruck von der enormen Ausdruckskraft der Darstellerinnen und Darsteller erhält. Auf insgesamt zehn gewaltigen Projektionsflächen entlang der Längs-und Breitseiten des Raumes werden die Spielszenen immer wieder, in Live-Bildern oder vorproduziertem Filmmaterial und stets in HD-Qualität, antizipiert, fortgesetzt, um Aspekte erweitert.

Wie Regisseur Volker Lösch diese Elemente passgenau zusammenführt, das hat die Wirkung nicht nur von akustischem, sondern vor auch von visuellem Dolby-Surround. Großartig. Zwischendurch eingeblendet sind Statements von Umweltaktivisten und Friday-for-Future-Kids, die ihre Forderungen nach Klimaschutz und Öko-Bewusstsein druckreifer formulieren als Greta Thunberg.

Gesucht wird in diesem Stück am Essener Grillo-Theater das Universelle im Regionalen

Das sind die Momente, in denen sich „Aufruhr“ wohl noch am ehesten dem ursprünglichen Plan eines bürgerbestimmten Theaters nähert. Vergleichbar der Gelsenkirchener Arbeitslosen-Oper waren Essener Bürger aufgerufen worden, ihre Erfahrungen mit Mietwucher, Wohnungskündigung und Zwangsräumung zu erzählen und gemeinsam mit dem Theater ein Stück zu entwickeln. Für Nicht-Essener: Das fiktive „Essen 5.0“ ähnelt durchaus einem im Stadt-Norden geplanten Projekt „Essen 51“. Doch das Konzept ist nun stark erweitert, nicht nur durch den Bogen, der beziehungsreich vom niedergeschlagenen Ruhraufstand 1920 ins utopische Morgen geschlagen wird.

Gesucht wird das Universelle im Regionalen. Es geht um falsche Versprechen und miese Methoden, um Menschen zur Aufgabe der Wohnung zu bewegen, um Städte, die Großinvestoren Flächen und Grundstücke bereitstellen, ohne wirklich Einfluss auf die Baupläne (Sozialwohnungen) zu haben, um Bürgerproteste, aber auch etwa um Braunkohleabbau und um eine hier rechts verortete Polizei, die als Handlanger des Kapitals Zwangsräumungen durchführt und gewaltsam gegen Protestler vorgeht. Um Aktualität aufzuzeigen, kommt Neu-Kanzler Olaf Scholz ins Spiel, und an Brasiliens Präsident Bolsonaro führt kein Weg vorbei.

Leider gibt der Abend kaum Gelegenheit zur Besinnung, zur Reflexion

Wo eine Salve berechtigter Kritik nach der anderen abgefeuert wird, bleibt kaum Gelegenheit zur Besinnung, zur Reflexion. Dazu kommt, dass die Differenzen zwischen „Essen 5.0“-Vertretern und Gegnern zudem fast durchweg aggressiv und lautstark ausgetragen werden, dass kein leiser Zwischenton die Dauerdynamik durchbricht. Es ist diese gut gemeinte Akkumulation des Negativen, und die damit verbundene Redundanz, durch die die Wucht der Inszenierung leider immer wieder etwas ausgebremst wird.

Termine: 6., 7.,21., 22. Januar (19 Uhr). Karten: Tel. 0201-8122200. Alle Infos:www.theater-essen.de