Essen. Elizabeth Strout erzählt in ihrem neuen Roman „Oh William!“ einmal mehr von der New Yorker Schrifstellerin Lucy Barton – und einer langen Ex-Ehe.
Vielleicht ist es in den USA noch immer einfacher als hierzulande, bei Literaturkritikern und Leserschaft gleichermaßen Erfolge zu feiern – und doch ist die Leichtigkeit, mit der Elizabeth Strout sich in beiden Welten behauptet, ganz erstaunlich. Ihre Werke stehen verlässlich weit oben auf den US-Bestsellerlisten. Für ihren Roman „Olive Kitteridge“ (auf Deutsch „Mit Blick aufs Meer“) erhielt sie im Jahr 2007 den Pulitzer Preis, er wurde als Mini-Serie verfilmt mit Oscar-Preisträgerin Frances McDormand, in einer Nebenrolle ließ sich gar Jack Nicholson sehen. Jüngst legte Strout mit „Olive, Again“ („Die langen Abende“) eine Fortsetzung vor.
Auch ihren aktuellen Roman „Oh William!“ könnte man als Teil einer Serie begreifen, ohne dass man allerdings die Vorgänger gelesen haben muss, um das Werk zu verstehen: Protagonistin Lucy Barton, eine Schriftstellerin aus New York, kennen wir bereits aus dem Roman „My Name is Lucy Barton“ („Die Unvollkommenheit der Liebe“) und aus dem Erzählband „Anything is possible“ („Alles ist möglich“). Letzterer entführte uns in die Kleinstadt Amgash, Illinois, wo Lucy Barton ihre schwierige, unglückliche Kindheit verlebte. Der Roman wiederum erzählt von einem Krankenhausaufenthalt der Schriftstellerin in ihren mittleren Jahren, längst verheiratet und Mutter zweier Töchter; erstmals kommt Lucys eigene Mutter nach New York – alte Wunden reißen auf, nur zaghaft werden neue Sichtweisen möglich.
Die 65-jährige Autorin Elizabeth Strout lässt Szenen einer Ehe Revue passieren
„Oh William!“ hingegen ist ein altersweises Werk, in dem die immerhin auch schon 65-jährige Strout Szenen einer Ehe Revue passieren lässt, aus der Perspektive zweier Menschen, die sich als Geschiedene vielleicht so nah sind wie nie zuvor. „Oh William!“ ist der innere Ausruf der Ich-Erzählerin Lucy bei fast jeder Begegnung, jedem Gespräch der beiden, ein tiefes Erkennen der Ängste und Schwächen des anderen. Lucy ist Witwe, ihr zweiter Ehemann David erst kürzlich verstorben – er war derjenige, bei dem Lucy sich „zu Hause“ fühlte. William aber ist – William. So, wie es einst zu ihm sagte vor vielen Jahren, als sie Angst hatte, er könnte sie verlassen (bevor sie später ihn verließ): Er dürfte nicht gehen, sagte sie ihm damals, „weil du William bist. Du bist William!“. Der Fels, die Autorität, das Zentrum. Nur dass der Fels jetzt bröckelt, wie Lucy feststellt, dass nach all den Jahren Williams Autorität schwindet. Alpträume hat er, die von seiner Mutter Catherine handeln, in einer leeren Wohnung sitzt er, seit seine zweite Ehefrau Estelle und die gemeinsame Tochter Bridget ausgezogen sind.
In Sprüngen und Erinnerungen nimmt uns Elizabeth Strout mit in eine Beziehung, die Jahrzehnte überdauerte, die Enttäuschung und Verletztheit überwunden hat – und sogar noch Überraschungen bieten kann. Denn erst jetzt erfährt William, dass er eine Halbschwester hat: dass seine Mutter eine kleine Tochter zurückließ bei ihrem ersten Mann, einem Kartoffelfarmer in Maine – um mit dem Ex-Kriegsgefangenen aus Deutschland, der Williams Vater werden sollte, ein neues Leben zu beginnen. Lucy begleitet William in die Kleinstadt nach Maine, in der seine Halbschwester lebt; wie nebenbei geht es auch um die Kriegsgefangenen und das Gefühl Williams, Sohn eines Deutschen zu sein. Oder um die Herkunft seiner Mutter, die ebenso wie Lucy aus ärmlichsten Verhältnissen kam, ihrem späteren Golfspiel und den Karibikurlauben zum Trotz – „du hast deine Mutter geheiratet“, sagt Lucy einmal. Strout holt Kindheitsdinge ans Licht, lotet aus, wie ihre Figuren zu denen wurden, die sie sind.
Am stärksten ist Elizabeth Strout in der Beschreibung ganz alltäglicher Szenen
Am stärksten ist Elizabeth Strout jedoch da, wo es um die kleinen Dinge geht. Alltagsszenen, Winzigkeiten. Williams zu kurze Khakihosen („Oh William!“), Lucys Laune, wenn sie nichts zu essen bekommt. Williams Lachen, den Kopf in den Nacken geworfen, das Lucy noch aus jeder ihrer Launen zu reißen vermag. Eigentlich müsste man natürlich sagen: Am stärksten ist Lucy Barton da, in diesen Szenen. Denn sie ist es, die hier sprechen darf, die den Roman beginnt mit den Worten: „Ich muss noch etwas über meinen ersten Mann sagen, William.“ Und diese Erzählerin, sie ist eine der stärksten Frauenfiguren, die Strout in ihrem Kosmos erfunden hat: Voller Selbstzweifel und voller Angst, zugleich ausgestattet mit einem inneren Überlebenstrieb, ein Strahlen, das William ihre „Freude“ nennt: „Es war – ja – Freude“, schreibt Lucy einmal: „Woher auch immer.“