Essen. Der zweite Roman der Essener Autorin Sarah Jäger ist da: In „Die Nacht so groß wie wir“ erzählt sie von den kleinen und großen Dramen der Jugend.
Der Tisch hinten links in der Ecke ist ihrer: In der Kneipe namens Penne sitzen Maja und Suse, Tolga, Pavlov und Bo in jeder ausgefallenen oder geschwänzten Schulstunde, die Kneipe heißt Penne, weil sie „dem weltbesten Penne“ gehört. Ihre fünf Stühle haben sie sich irgendwann tätowieren lassen, jeder an einer anderen Stelle, aber immer die gleichen Stühle.
Nur werden sie jetzt aus ihrer Ecke herauskommen müssen, für immer.
„Die Nacht so groß wie wir“ heißt der zweite Roman der Essener Autorin Sarah Jäger, die mit ihrem vorherigen Roman „Nach vorn nach Süden“ auf der Shortlist zum Literaturpreis Ruhr stand. Fünf Freunde machen Abitur und erzählen vielstimmig von der letzten Partynacht, nein eigentlich sind es nur jeweils vier: Denn Bo hat ja das Abi versemmelt. Und Tolga bleibt stumm. Doch auch in einem nur vierstimmigen Geflecht dauert es ein paar Seiten, bis die Figuren sich vor dem inneren Auge sortieren, die Konstellationen und Geschichten und Verbindungen – dann aber tauchen wir ab in diese Jahre, die fürs Leben prägen und die uns hier so feinsinnig und genau beobachtet in Erinnerung gerufen werden.
Die „piksige Tamara“, der „zusselige Hung“ und der „gestreifte Henning“
Da ist Maja, die grad Japanisch lernt und nach dem Abi einen Praktikumsplatz in Osaka antritt. Da ist Tolga, ihr bester Freund, den sie einmal beinahe umgebracht hätte beim Bau einer gemeinsamen geheimen Hütte, und der jetzt eine Narbe an der Schläfe trägt. Da ist Suse, deren Vater bei einem Autounfall starb, und die jede Klatschgeschichte der Stufe kennt, sie hat allen ein Adjektiv verpasst: die „piksige Tamara“, der „zusselige Hung“, der „gestreifte Henning“. Suse ist ein Messie und sammelt auch Menschen, was zu Chaos führt: Wie kann sie gleichzeitig im Herbst zu Nastja nach Hamburg ziehen und mit Pavlov nach Ghana reisen?
Pavlov heißt mit Vornamen Bastian: Er wird im Haus seines Vaters die schönen Bilder von dessen Zweitfamilie zertrümmern, aber das ist nur der Anfang. Und Bo? Der war auch mal kurz mit Suse liiert und blieb als fünfter Freund einfach auf seinem Stuhl in der Penne sitzen. Gemeinsam haben sie mit ihm für die Zulassung zur Oberstufe gelernt, so wie sie gemeinsam in der siebten Klasse Pavlov zu jedem Fußballspiel begleitet haben, so wie sie gemeinsam bei Suses Großtante trockene Waffeln gegessen haben.
So viel Pathos, so viel Ironie darf wohl nur die Jugend
Und nun? „Das ist die letzte Nacht unserer Jugend, Leute“, sagt Pavlov: „Das ist die Nacht, in der wir sterben müssen. Vom Ungeheuer verschlungen und dann wiedergeboren.“ So viel Pathos, so viel Ironie darf wohl nur die Jugend; auch sprachlich schafft dieser Roman Nähe, ohne sich je anzubiedern an irgendeinen Slang. Sarah Jäger gelingt es, die kleinen und großen Dramen auszuloten, ohne sich über die kleinen zu erheben oder die großen allzu grell leuchten zu lassen. Und deshalb sind wir ganz nah dabei, ob Maja nun eine Abstimmung gefälscht hat oder Bo sich vor einem lebensgefährlichen Eingriff fürchtet. „Wenn der Schmerz zu groß wird, dann zackig den Blinker setzen. Und ablenken“, sagt Bo, als er am Ende neben der kirren Bergit auf dem Boden neben der Tischtennisplatte liegt – und in den Sternenhimmel schaut.
Das Ende ist auch eins der Jugend, auf tröstliche Weise: Diese fünf werden ihren Platz (ihre Stühle) im Leben finden.
Sarah Jäger: Die Nacht so groß wie wir. Rowohlt Rotfuchs, 192 S., 18 €, Ebook 14,99 €. Für Leser ab 14.