Düsseldorf. Was ist Rassismus? Warum ist Herkunft nicht wählbar? Das fragt Mithu Sanyal in „Identitti“: Ihr Roman wurde jetzt in Düsseldorf zum Bühnenstück.
Was ist Rassismus? Vor wenigen Monaten stand das Düsseldorfer Schauspielhaus im Zentrum einer Debatte, angestoßen von den Rassismusvorwürfen eines Schauspielers, einer Debatte, die sich ausweitete zu einer generellen Abrechnung mit Machtstrukturen und Ressentiments im Kulturbetrieb. Was tut man in so einem schlimmen Fall? Wogen glätten, sich entschuldigen, aufarbeiten. Vor allem aber: spielen! Denn mit dem kleinen Coup, Mithu Sanyals Roman „Identitti“ auf die Bühne zu bringen, hat sich das Haus nun kurzerhand an die Spitze des rassismuskritischen Diskurses gesetzt.
Worum geht es? Mithu Sanyal, 1971 in Düsseldorf geboren, fragt in ihrem Roman „Identitti“, ob Herkunft frei wählbar ist, vielmehr, warum sie denn nicht frei wählbar sein sollte – so wie etwa das Geschlecht. Ihre Protagonistin Nivedita hat (wie die Autorin selbst) einen multikulturellen Hintergrund, der Vater stammt aus Indien, die Mutter aus Polen. An der Uni studiert Nivedita Postcolonial Studies bei der charismatischen Professorin Saraswati – die aber leider ihre indische Herkunft frei erfunden hat. In der folgenden Debatte gerät Nivedita, die ihre Professorin verehrt, zwischen alle Fronten. Der Roman stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wurde mit dem Literaturpreis Ruhr geehrt.
Regisseur Kieran Joel arbeitete mit Autorin Mithu Sanyal zusammen
Mithu Sanyal begleitete auch den Probenprozess und schrieb die Bühnenfassung, dies dürfte es Regisseur Kieran Joel erheblich erleichtert haben, frei mit dem Material umzugehen. So hören wir als erstes ein Radiointerview mit der Darstellerin Niveditas, der Schauspielerin Cennet Rüya Voß, die über ihren eigenen Hintergrund plaudert und sich die Frage gefallen lassen muss, da sie ja ganz schön dunkle Haut habe: „Haben Sie je Rassismus erlebt?“ Dies ist ein Theaterstück, eine erfundene Realität, eine Spielwiese: Virtuos übersetzt das Ensemble die ganz offensichtlich im Probenprozess geführten Debatten in Szenen, die oft witzig und skurril, selten nur überdreht daherkommen.
Schon zu Beginn ist Saraswatis Vergehen bekannt, tritt sie im wahrsten Sinne als gespaltene Persönlichkeit auf die Bühne, dargestellt von Friederike Wagner und Leila Abdullah, die sich in identischen Outfits die Sätze zuwerfen und im Hörsaal ihren Studierenden erklären, warum sie ihre Seelen „dekolonialisieren“ müssen und Liebe ein „revolutionärer Akt“ sei: Wenn man Menschen die Idee einpflanzt, sie seien nicht liebenswert, wie sie sind – dann sei dies ein Instrument der Unterdrückung.
Niveditas Problem ist eher: Sie weiß noch gar nicht, wer und wie sie ist. Ihre Mitbewohnerin Lotte nennt Nivedita „nicht indisch genug“, ihre Freundin Oluchi hält sie für eine „Kokosnuss“: außen braun, innen weiß. (Sowohl Lotte als auch Oluchi werden gespielt von Fnot Taddese.) Als Nivedita und ihre aus England stammende Cousine Pritti (Amina Merai) einen Schulfreund Niveditas verführen, kullern die Kokosnüsse nur so über die Bühne; an der Seite ihrer irgendwie so viel indischeren, cooleren Cousine scheint die erste sexuelle Erfahrung für Nivedita ebenfalls etwas sehr Aufgesetztes, Unechtes zu haben.
„Rassismus bedeutet, sich nicht zugehörig zu fühlen“, sagte Nivedita
Psychische Stütze der unsicheren Nivedita ist die Göttin Kali (Serkan Kaya): sexy, mächtig, allwissend. Bei ihr heult Nivedita sich aus, als ihr Freund Simon (Joscha Baltha) sie zum x-ten Mal verlässt, als sie nicht verstehen kann, warum sie sich von Saraswati auch ganz persönlich verraten fühlt. Cennet Rüya Voß’ Wandlungsfähigkeit ist hier gar nicht genug zu loben, auf ihrem Gesicht spiegelt sich die ganze Wut, Scham, Hoffnung, die sie empfindet, die Verletztheit, die Sehnsucht. Ihr grandioses Spiel trägt auch jene Szenen, die vielleicht doch etwas zu viel wollen: Muss da wirklich ein alter weißer Mann aus dem Bühnenboden klettern, als Nivedita sich wünscht, ein alter weißer Mann zu sein? Muss da ein gigantische Gummiherz von der Decke baumeln, als es um Saraswatis Gefühlswelt und Familiengeschichte geht, ihren Adoptivbruder aus Indien (Mehdi Moinzadeh)? Was im Roman als etwas bemühter Erklärungsversuch für Saraswatis Identitätswandel schnell überblättert ist, wird auf der Bühne doch allzu groß, lenkt ab von der ursprünglichen Geschichte, nämlich Niveditas Fragen nach ihrem eigentlichen Sein.
Zum Glück holt diese sich die Bühne rasch zurück: für eine letzte, fulminante Lobrede auf die Kraft der Liebe und der Menschlichkeit. Was ist Rassismus? „Rassismus bedeutet, sich nicht zugehörig zu fühlen“, sagte Nivedita zu Beginn; am Ende hat sie sich ihren Raum erobert. Lange anhaltender Beifall für eine mutige und eigenwillige Produktion.