Essen. Artistik in Geschichten und meist ohne Tiere: Die Artistenszene im Revier vernetzt sich im „Bündnis Neuer Zirkus Ruhr“ – und tritt in Herne auf.

Der Zirkus unserer Tage bietet weit mehr als Raubtierdressur und bunte Clowns. Wen es heute als Star in die Manege zieht, der ist nicht selten ein Artist mit Hochschuldiplom – und versucht dann, auf dem weiten Feld der freien Kulturszene Fuß zu fassen. Auch im Ruhrgebiet gibt es eine blühende, noch junge Artistenszene, die sich jetzt im „Bündnis Neuer Zirkus Ruhr“ vernetzen möchte. Was es damit auf sich hat, erläutert Sprecherin Jenny Patschovsky unserem Mitarbeiter Sven Westernströer.

Wofür steht der Begriff „Neuer Zirkus“?

Jenny Patschovsky: Als eigenständige Kunstform ist der Neue Zirkus in Deutschland noch relativ frisch. Im Kern sind das zumeist recht junge Künstlerinnen und Künstler, die sich für den Beruf des Artisten entschieden haben. Oft arbeitet der Neue Zirkus an Schnittstellen zu anderen Künsten wie Schauspiel, Tanz, Musik und bildender Kunst.

„Es wird eine Geschichte erzählt, es gibt ein Thema, ein Programm, eine Dramaturgie“

Mit dem Bild vom klassischen Zirkus hat das also kaum zu tun?

Wenig. Der wichtigste Unterschied: Es gibt nicht eine isolierte Nummer nach der anderen, sondern es wird eine Geschichte erzählt, es gibt ein Thema, ein Programm, eine Dramaturgie, eine Choreografie – wie zum Beispiel bei „Urbanatix“, das viele im Ruhrgebiet ja schon kennen. Viele Artisten gründen eigene Kompanien, organisieren sich in kleinen Ensembles. Meistens sind sie selbstständig und entwickeln eigene Projekte, mit denen sie dann auf Tournee gehen. Da gibt es durchaus Parallelen zur freien Theaterszene.

Aber es gibt keine Tier-Nummern?

Sehr selten.

Und das alles trägt sich?

Ähnlich wie freie Schauspieler sind auch Artisten häufig auf Förderprogramme angewiesen, um ihre Projekte umsetzen zu können. Einige Artisten sind auch im Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus organisiert, der aktuell rund 160 Mitglieder hat. Ein Ziel des Verbandes ist es, den Künstlern Zugang zu öffentlichen Fördertöpfen zu ermöglichen, was manchmal schwierig ist, denn Zirkus wird gern als Unterhaltungskunst gewertet und als solche nicht gefördert. Da ist schon Überzeugungsarbeit gefragt, denn dass Neuer Zirkus eine Kunstform genauso wie Theater, Tanz und Performance-Kunst ist, durchblickt nicht jeder.

Wie wird man ausgebildet für den Neuen Zirkus?

Professionell lernen kann man das in Deutschland an der Staatlichen Artistenschule in Berlin. Oder man geht dafür ins Ausland, wo es auch Zirkus-Hochschulen gibt, etwa in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Viele kehren nach ihrer Ausbildung zurück und bereichern dann mit ihren Darstellungsformen die hiesige Kulturszene.

„Hier hat sich eine Szene gegründet, die mit viel Kreativität ans Werk geht“

Wie ist die Lage im Ruhrgebiet?

Hier hat sich in den letzten Jahren eine Szene gegründet, die mit viel Engagement und Kreativität ans Werk geht. Wir sind froh, mit den Flottmannhallen in Herne und den Ruhrfestspielen Partner gefunden zu haben, die die Künstler unterstützen und ihnen Proberäume zur Verfügung stellen. Ganz wichtig ist auch der „Open Space“ in Bochum, eine eigene Trainingsstätte für Streetartisten, Zirkus- und Bewegungskünstler, die aus den Urbanatix-Shows entstand. Um die vielen Aktivitäten im Ruhrgebiet besser bündeln zu können, gibt es seit Ende 2020 das Bündnis Neuer Zirkus Ruhr. Noch haben wir wenige Mitglieder, aber wir hoffen, dass sich das bald ändert.

Wo kann man Neuen Zirkus denn live erleben?

Bis 14. November finden im Rahmen des bundesweiten Projekts „Zeit für Zirkus“ Aufführungen in der Nähe statt. In den Flottmannhallen gibt es am Samstag, 13. November, um 20 Uhr die Performance „Stehfleisch & Sitzvermögen“ des Duos Spot the Drop, eine irrwitzige Aufführung mit Klappstühlen, Bällen und Keulen. Die Performerin Elisa Berrods spielt am Sonntag, 14. November, um 18.15 Uhr bei Open Space eine Solo-Performance mit Farben, Klängen und Bewegungen.