In einer bisher unbekannten Live-Version ist „A Love Supreme“ von John Coltrane neu zu entdecken – aufgenommen 1965 in einem Club in Seattle.
Am späten Nachmittag des 9. Dezembers 1964 war das John Coltrane Quartet mit einem Chrysler-Kombi losgefahren. Dann brauchten sie viereinhalb Stunden in Rudy van Gelders Studio zu Englewood Cliffs/New Jersey. Mehr nicht – und die populäre Kunst des 20. Jahrhunderts hatte einen ihrer Meilensteine. Kurz nach Mitternacht war als Zweispuraufzeichnung und wie in Stein gemeißelt die Musik fertig aufgenommen. Aus einer Tonbandstunde wurden knapp 33 Minuten destilliert zur Essenz nicht nur einer seiner wichtigsten Bands, sondern einer ganzen Musikrichtung: Der moderne Jazz hatte fortan seine Bergpredigt: „A Love Supreme“.
Darüber hat der US-Publizist Ashley Kahn 2002 ein faktensattes, reich illustriertes und kurzweiliges Buch veröffentlicht. Eine ganze Ära scheint hier auf und leuchtet wie in einen Kristall gegossen. Bob Dylan hatte von sich verändernden Zeiten gesungen. McCarthy war tot, Kennedy auch. Der Gedanke der Gleichstellung von Farbigen lebte weiter. Die Bürgerrechtsbewegung war mit 200.000 Leuten auf Washington marschiert, in den Ghettos war es unruhig. Malcolm X und Martin Luther King predigten. Populäre Musik kam aus Liverpool und Detroit. John Coltrane war 37 und zum ersten Mal Vater geworden im Sommer jenen Jahres. Er lebte im neu erworbenen Haus im New Yorker Stadtteil Long Island und hatte sich für fünf Tage ins obere Stockwerk zurückgezogen. Seine Witwe Alice erinnert sich, dass er dann wie „Moses vom Berg Sinai“ herabgestiegen kam: „Zum ersten Mal hab ich alles, wirklich alles dafür fertig.“
„A Love Supreme“ als Quintessenz von Coltranes Suche nach universellem Verständnis
Er meinte die Quintessenz seiner Suche nach universellem Verständnis. Er meinte vollständige Hingabe als ideale Spielvorlage für seine idealen Begleiter McCoy Tyner (Piano), Jimmy Garrison (Kontrabass) und Elvin Jones (Schlagzeug). Er meinte etwas alle Verbindendes, das er in dieser vierteiligen Suite für die „Höchste Liebe“ in den Sätzen Anerkennung, Entschlossenheit, Streben, Psalm in Töne gegossen hatte, die dann auf dem Campus ebenso gehört wurden wie in den Ghettos. Das war Musik als Mission, die von Stolz, Energie und Religiosität kündete. Viel später wurde sie vergoldet für 500.000 verkaufte Exemplare und kann inzwischen auch in einer Deluxe-Edition nachgehört werden. Die enthält auch die vermeintlich einzige Aufführung des Stücks vor Publikum: Am 26. Juli 1965 war in Antibes die europäische Côte d’Azur-Schickeria nach 48 Minuten so überfordert, dass der Moderator den Tumult schlichten musste. Im selben Jahr hat Coltrane sein Quartett aufgelöst und ist mit der jungen New Yorker Avantgarde zu atonalen Experimenten aufgebrochen. Da hatte er noch zwei Jahre zu leben.
Am 2. Oktober 1965 in Seattle hat Coltrane sein Meisterwerk noch einmal aufgeführt
So kannte man bisher die Geschichte. Nun muss sie neu geschrieben werden, denn in erweiterter Besetzung und mehr als doppelter Länge hat Coltrane am 2. Oktober 1965 im Penthouse Club in Seattle sein Meisterwerk noch einmal aufgeführt. Der Clubchef schnitt mit. Auch wenn seine Aufnahmen nicht den heutigen Maßstäben entsprechen, ist ihre Veröffentlichung eine Sensation. Sie zeugt von Coltranes Übergang in seine letzte Phase, die vor allem von der Zusammenarbeit mit dem vierzehn Jahre jüngeren Tenorsaxofonisten Pharoah Sanders bestimmt ist, mit dem sich Coltrane in intensiven Steigerungen in andere Dimensionen spielte. Erstmals traten beide in Seattle gemeinsam auf. Man blieb nah am Original, dehnte es und gab den mit Bass und Schlagzeug improvisierten Interludien mehr Raum. Wie Coltrane und Sanders hier interagieren und aneinander wachsen, ist ein Vorschein auf alles, was in den nächsten beiden Jahren folgen wird.
Dieser sensationelle Fund, kommentiert in ausführlichen Liner Notes von Ashley Kahn, ist das Verbindungsstück zwischen den beiden großen Schaffensperioden John Coltranes. Es dokumentiert ebenso nachdrücklich wie unverhofft die Konsequenz seines Neuansatzes und dass der Bruch alles andere als abrupt erfolgte.