Frankfurt/M. Für den Roman „Blaue Frau“ erhielt Antje Rávik Strubel den Deutschen Buchpreis. Ein Interview über sexualisierte Gewalt – und einen großen Zorn.
Als Antje Rávik Strubel bei der öffentlichen Verleihung der Deutsche Buchpreis zuerkannt wurde, da war ihr erster Gedanke: „Du darfst jetzt nicht vergessen zu atmen.“ Mit Britta Heidemann sprach sie über den schönen „Schock“ der Ehrung und ihren Roman „Blaue Frau“.
Frau Strubel, Sie haben ungewöhnlich lange an dem Buch gearbeitet – warum?
Antje Rávik Strubel: Ich wusste am Anfang selbst nicht, was Adina widerfahren ist. In einem früheren Erzählband ist sie der letzte Teenager in einem tschechischen Skiort. Nun ist sie Anfang zwanzig und in Helsinki gestrandet und zwar in der Wohnung, in der ich selbst lebte, während ich an der dortigen Uni war. Aber wie kam sie aus Tschechien dorthin? Parallel dazu habe ich von Frauen in meinem Umfeld erfahren, dass sie sexuellen Missbrauch erlebt hatten. Die Häufigkeit, mit der mir das begegnet ist, auch bei Autorinnen wie Lucia Berlin oder Virginia Woolf, die ich übersetzte, brachte mich dazu, dem nachzugehen. Das hat Adinas Geschichte beeinflusst.
Ein Thema, das sicher auch literarisch schwierig ist?
Mir war klar, dass ich die Gewalt nicht darstellen möchte. Und gleichzeitig musste ich sie doch glaubwürdig machen. Denn genau darin liegt eines der großen Probleme im Umgang mit sexualisierter Gewalt: den Frauen wird nicht geglaubt! Ich musste verdeutlichen, was passiert ist, ohne es zu erzählen. Eine große Herausforderung bestand auch darin, Adinas Sprachlosigkeit in Sprache zu verwandeln. Sie muss erst wieder einen Zugang zu sich selbst finden. Außerdem musste ich das Buch eine Weile zur Seite legen, weil der Zorn mich gepackt hatte.
Antje Rávik Strubel: „Zornig war ich über die fehlende Empathie in der Gesellschaft“
Warum waren Sie zornig?
Während meiner Recherchen fiel mir auf, wie aussichtslos es ist, eine Vergewaltigung anzuzeigen. In Deutschland kommt es kaum zu Verurteilungen. Zumal die Hürde groß ist, den Tathergang vor Gericht zu erzählen, wenn, wie in Deutschland üblich, der Täter im selben Raum sitzt. Zornig war ich auch über die fehlende Empathie in der Gesellschaft. Reaktionen wie beispielsweise die der Schweizerin im Roman sind offenbar völlig normal. Da heißt es: Solche Anschuldigungen sind doch heute in Mode. Oder: Übertreibt sie da nicht ein bisschen?
Im Roman heißt es, dass es in den skandinavischen Ländern mehr Anzeigen gibt.
Ja, dort ist man weiter im Verständnis dessen, dass Gewalt gegen Frauen in einer demokratischen Gesellschaft kein Kavaliersdelikt sein kann. Dort müssen die Frauen nicht mit den Tätern im selben Raum sitzen, das wird selbstverständlich mit Videoübertragungen gelöst. Eine deutsche Anwältin erzählte mir, sie würde ausgelacht, wenn sie auch nur einen räumlichen Abstand zwischen Opfer und Täter einfordert! Da müssen erst große psychologische Gutachten her, um zu beweisen, dass eine Aussage in dieser Situation eine emotionale Belastung darstellt. Der uralte Mythos von der lügenden Frau ist sehr lebendig, wenn verlangt wird, dass sich die Betroffene fehlerfrei an das schreckliche Geschehen erinnert, sonst ist ihre Aussage wertlos. Ein Strafverteidiger erzählte mir, er baue seine Verteidigungen selbstverständlich auf der wissenschaftlichen Erkenntnis auf, dass wir uns ohnehin nur wenige Sekunden fehlerfrei zu erinnern vermögen.
Sehen Sie auch positive Entwicklungen?
Die Metoo-Debatte hat mich eingeholt, während ich schrieb. Damit dringt die Tatsache von männlichem Machtmissbrauch und Frauenhass immerhin ins gesellschaftliche Bewusstsein vor.
„Aus Ostdeutschland kam man nur aus Ostdeutschland, als gäbe es keine Unterschiede“
Es geht auch um Europa im Roman; Ihren Schauplatz Helsinki nennen Sie eine Stadt mit zwei Gedächtnissen. Wann ist Ihnen das aufgefallen?
Ich war 2012 für ein halbes Jahr Writer in Residence in Helsinki. Ich hatte das Glück, mit vielen Wissenschaftler*innen aus den baltischen Ländern und auch als Finnland zu sprechen. Finnland stand historisch gesehen immer zwischen den großen Mächten, dort geht der Blick viel selbstverständlicher auch in Richtung Osten. Aufgrund der Neutralitätspolitik während des Kalten Krieges unterhielt man enge Beziehungen mit beiden deutschen Staaten. So gab es ein Goethe-Institut und ein DDR-Kulturzentrum. Mir ging zum ersten Mal auf, dass man sich in Osteuropa ganz grundsätzlich anders an die Schrecken des 20. Jahrhunderts erinnert als in Westeuropa. Auch, weil die Diktaturerfahrungen andere sind.
Im Roman sagt eine der Protagonistinnen, die ein Literaturstipendium in Finnland hat, es sei ihr „fad“, immer als Ost-Autorin definiert zu werden. Spiegeln Sie sich in dieser Figur?
Ende der 1990er Jahre beobachtete ich, wie differenziert Schriftsteller*innen westdeutscher Herkunft wahrgenommen wurden, aus welcher Region sie stammen, welchen Hintergrund sie haben. Aus Ostdeutschland kam man nur aus Ostdeutschland, als gäbe es da keine Unterschiede. Zu DDR-Zeiten waren die Landkarten dort, wo Westen war, weiß. Jetzt gab es die weißen Flecken in der Wahrnehmung westdeutscher Medienmacher, wenn es um ostdeutsche Themen ging. Das fand ich furchtbar fad, ja. Zumal es in einer Diktatur umso entscheidender sein kann, wo man herkommt, aus der sogenannten Intelligenzia, der Bourgeoisie oder der Arbeiterklasse, und auf welcher Seite man steht.
Also würden Sie sich mehr Helsinki für Deutschland wünschen?
Nicht nur für Deutschland, für ganz Europa. Gerade heute, wo wir uns über die nationalistischen Tendenzen in Osteuropa oder über die frauenfeindliche Regierung in Polen Sorgen machen. Es kann nie schaden, den Blick zu weiten und sich der eigenen Defizite bewusst zu werden. Was wissen wir eigentlich von den Erfahrungen der Menschen in Tschechien oder im Baltikum im und nach dem Zweiten Weltkrieg? Wir erwarten, dass im Osten alles so angenommen und gemacht wird, wie es sich im Westen bewährt hat, und dann sind wir überrascht, wenn sich die Menschen im Osten enttäuscht abwenden. Sich vorzustellen, wie es umgekehrt wäre, ist, wo es um Machtgefälle geht, immer hilfreich.
„Mit dem Namen Ràvik wollte ich der Welt etwas entgegensetzen“
Sie haben Ihren Namen 2001 geändert, ergänzt vielmehr. Warum?
Ein Name kann Stärke und Schutz sein. Er kann aber auch Zeichen der Kontrolle und Inbesitznahme durch andere sein. Mit dem Namen Ràvik wollte ich der Welt etwas entgegensetzen. Rávik bezeichnet mein Schreiben, mein Schreib-Ich. Das wollte ich nach außen hin verdeutlichen, bevor mir von außen Zuschreibungen verpasst werden.
Gibt es schon etwas Neues, an dem Sie arbeiten?
Ja, aber darüber möchte ich noch nicht sprechen. Ich bin froh, dass es ein paar Sätze gibt, die auf mich warten. Kein gähnender Abgrund. Das hatte ich auch schon mal, das war sehr furchterregend.
Ich wollte grad fragen - was würden Sie machen, wenn Sie nicht Schriftstellerin wären?
Nicht zu schreiben, nein, die Vorstellung ist beängstigend. Früher wollte ich Skilehrerin werden, aber der Zug ist wohl abgefahren.