Dortmund. Beatles statt Beethoven: Dortmunds Konzerthaus lädt Über-60-Jährige zum Singen ein. Kein Leistungsdruck, dafür Wunschkonzert. Kaffee gibt’s auch.

Wer beim offenen Singen der Generation 60 Plus bloß „Kein schöner Land“ denkt, den darf man daran erinnern, dass hier im blitzblank polierten Foyer des Dortmunder Konzerthauses, ja per Geburtsurkunde längst auch andere Platz nehmen dürften: Paul McCartney (79) oder Gitte (75). Man weiß nicht, ob sie sich vertrügen, aber: Nana Mouskouri und Nina Hagen – für die wär’ Platz hier, wenn auch vielleicht nicht an einem Tisch.

Besagte Bandbreite befeuert der erste spontane Wunsch-Ruf Montag gegen 10.30h: „Heino“ rufen die einen (irgendwo stöhnt jemand auf), „Reinhard Mey!“ halten die anderen dagegen. Mey gewinnt, „Über den Wolken...!“ Am Keyboard: Alleinunterhalter Marco. Das mit den Textzetteln war bei der Premiere nix. Jetzt aber gibt’s einen großen Bildschirm für alle, „Wind-Nordost, Startbahn Null-drei...“

Ein Befreiungsschlag aus 50 Kehlen

Alle, das sind beim zweiten Treffen doppelt so viele wie beim ersten Mal, ein Befreiungsschlag aus 50 Kehlen. Gertrud Kohlpoth spricht für viele hier, wenn sie sagt: „Das Singen hat mir gefehlt!“ Christa Frenz (85) hat während Corona „immer allein gesungen, ohne geht es nicht. Ich sing mit, wenn’s Radio an ist und wenn’s nicht an ist, sing ich trotzdem“. Wenn sie ein Lied nennen sollte, das alles vergessen lässt, auch den Rollstuhl? „Dein ist mein ganzes Herz!“

Dortmunds Konzerthaus: Lehár also statt Lohengrin. Und mehr: Marion Riedel liebt die Beatles – und Joe Cocker erst recht („der geht immer“). Es wird diese neue Einrichtung namens „When you’re smiling“ („Wenn du lächelst“ – einen alten Sinatra-Song zitierend) auch für das architektonische Flaggschiff der Dortmunder Klassik mit Gewöhnungsbedürfnis aufwarten. Sonst Adagio und Presto, jetzt Cindy und Bert, sonst Haydn, jetzt „Hejo, spann den Wagen an“.

Ohne Eintritt, ohne Beitritt

Dass Gerda und Ute, Doris und all die anderen hier neuerdings wöchentlich nach einer für sie alle so scheußlichen, pandemiebedingten Schweigezeit ans Singen kommen, ohne Eintritt, ohne Beitritt, das finanziert „Kubia“. Das steht für den Verein „Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion“ – im Rücken hat der das Kultur- und Bildungsministerium NRW. Etwas Kuchen finanziert er auch, für die Pause. Als das klar ist, dass man erst singt und dann Streusel kriegt, geht der erste von drei Herren. „Der war doch bloß wegen Kuchen gekommen“, sagt Brigitte, die die sich mit Männern auskennt, „und 60 war der auch nicht.“ Er verpasst einen Song, zu dem die Übrigen besonders leidenschaftlich die Stimmen erheben: „Aber bitte mit Sahne!“

Das Repertoire ist angenehm tabufrei. Bei Marco (aus Arnsberg und nicht gerade der klassische Konzerthaus-Interpret) gibt es alles. „Yellow Submarine“, „Sag mir, wo die Blumen sind“, und einen Schlager von 1972: „Wenn die Sonne erwacht in den Bergen“. Der ist von Adam und Eve und ein Wunsch von Rita, die sich nicht für sehr musikalisch hält: „Ich hab’ in der Schule beim Singen immer ‘ne Vier aus Mitleid gekriegt, hier fällt das gar nicht auf. Hier sing ich aus voller Brust mit, das ist einfach toll.“

„Einfach ein ganz tolles Gefühl!“

Damit spricht sie einen Grund an, warum viele hier sind: kein Auftritt, keine Leistungsanforderung. Marion etwa hat früher im Gospelchor gesungen, dann kam eine Erkrankung. Sie hörte auf. Hier aber „muss man nicht werweißwas für eine Stimme haben“. Was Singen bei ihr auslöst, hier oder allein? „Einfach ein ganz tolles Gefühl!“

Viele hier waren früher im Chor. Das Offene, Unverbindliche des Projektes zeigt sich als Trumpf. „Wir sind kein weiterer Gesangsverein“, sagt Marleen Kiesel, die das Experiment aus dem Team des Konzerthauses als Musikpädagogin begleitet. Die Gastgeber kommen nicht erzieherisch um die Ecke; niemand soll mit Milva angelockt, um dann mit Mozart missioniert zu werden. Es geht, sagt Marleen Kiesel, um deutlich mehr als Musik, nämlich „Menschen, die durch Corona lange isoliert waren, zusammen zu bringen, Gemeinschaft zu stiften.“

Projekt wird noch bis Mitte Dezember gefördert

Bis Mitte Dezember wird das Projekt zunächst gefördert. Was einen leicht erraten lässt, was Gertrud, Christa und ihre Sangesschwestern und -brüder sich vom Christkind wünschen. Wer weiß, ob nicht am Ende sogar was von Heino unterm Baum liegt.