Essen. John le Carrés Alterswerk „Silverview“ ist ein ziemlich jugendfrischer Roman um einen zurückgezogenen Agenten. Sehr ironisch, sehr elegant.

Dass es doch noch einen 26. Roman von John le Carré gibt, der sogar schon vor dessen Ableben im Dezember letzten Jahres druckfertig war, konnte kaum noch überraschen, nachdem der Autor zuvor seinen Abschied von der Literatur gleich mit zwei angeblich „letzten“ Romanen und mit repräsentativen Lesungen in London sowie in seiner Lieblingsstadt Hamburg orchestriert hatte. Das war eine wahre Abschiedssymphonie, der nun noch eine Zugabe folgt.

In diesem schmalen Roman, dem letzten nach den „letzten“, lässt der Altmeister der Spannungsliteratur seinem immer schon spürbaren, meist aber gezügelten Hang zu Ironie, Satire und tieferer Bedeutung freien Lauf. Gut hundert Seiten lang amüsiert er sich und uns mit der lustvoll-hinterlistigen Dekonstruktion des Tuns und Treibens in der Chefetage der „Firma“, also des britischen Auslandsgeheimdienstes, das sich immer mehr als eitles Getue entlarvt („Affenzirkus“ sagt ein Insider) – ohne dass wir vorerst einen roten Faden erkennen. Aber den muss es doch geben?

Festival der Täuschungen und eitles Getue beim Geheimdienst

Zunächst treffen wir dann – in einem Seebad an der englischen Ostküste – auf einige bereits bewährte Motive und Figuren. Vor allem ein sympathisch-harmloses junges Paar: Julian, der vom Geldverdienen in der City wie vom dort verdienten Geld genug hat und als dilettierender Buchhändler neuen Lebenssinn sucht; und die resolute Lily, deren schwerkranke Mutter Deborah einst die legendäre „Top-Analystin“ der „Firma“ war.

In zerrütteter Ehe mit ihr lebt Lilys Vater Eward, für seine Freunde „Ted“, der sich sehr schnell mit Julian anfreundet und dessen Hilfsbereitschaft und Computer für „dies und das“ benutzt; ein ausrangierter Agent, vielsprachig, listig, mit allen Wassern der Täuschung gewaschen, in sämtlichen Konflikten des alten Europa gehärtet. Er imponiert Julian vor allem mit seinen literarischen Tipps und spendiert gleich zwölf Exemplare von W. G. Sebalds Buch „Die Ringe des Saturn“ für den Laden. Dieser „ausgewanderte“ deutsche Autor hatte ja tatsächlich seit 1970 an der Universität im nahen Norwich gelesen, nach 1980 als Professor für deutsche und internationale Literatur. Sein Text ist nur oberflächlich ein Reisebericht über die Region und zugleich „ein literarischer Taschenspielertrick erster Güte“, wie Edward dem staunenden Julian erläutert. Uns aber liefert er damit das Schlüsselwort für den Roman wie auch für die ganze Sphäre der Geheimdienste, die le Carré in all seinen Büchern, zunehmend verbittert, als ein gigantisches Festival der Täuschungen und der vielfachen Fälschung inszeniert und immer schärfer kritisiert hat.

Den Vorgesetzten immer eins voraus

Inzwischen mehren sich nämlich die Hinweise, dass der joviale Edward selbst eine Täuschung großen Stils betrieben und sich in ernsthafte Probleme manövriert hat, aus denen er nun einen Ausweg sucht. Dies wiederum wird mit all der Raffinesse und Subtilität erzählt, die wir am Erzähler John le Carré seit langem bewundern konnten. Dazu gehört auch, dass er ziemlich genau in der Mitte seines Textes den entscheidenden Knoten schürzt, der sich erst allmählich entwirren lässt und den moralisch-existenziellen Kern des Geschehens offenbart. Es geht um eine Episode aus dem Krieg im zerfallenen Jugoslawien Mitte der 1990er-Jahre, ein Massaker, in dem die serbische Soldateska alle muslimischen Männer und Knaben in einem bosnischen Bergdorf abgeschlachtet hat. Darunter ein jordanischer Arzt, der das Lazarett einer neutralen Hilfsorganisation leitete, und sein zwölfjähriger Sohn; einem zu spät hinzugekommenen „Deutschen“ (!) gelingt es nur noch, dem serbischen Oberst die Frau und Mutter abzuhandeln, weil er sie angeblich „für sich selbst will“.

Ullstein und sein Jahrhundertschriftsteller

Dass Ted, der treue Freund der Familie, unter diesen allerschwierigsten Umständen im ‚Herzen der Finsternis’ (Joseph Conrad) die Liebe seines Lebens gefunden hat und nun an ihrer Seite für die Sache der Palästinenser agitiert, dass er also im Schattenkrieg der Dienste längst die Seiten gewechselt hat, erschließt sich uns erst schrittweise, immer ein paar Schritte vor den Vorgesetzten aus der „Firma“. So verschwindet dieser letzte Held le Carrés, wie die meisten anderen zugleich ein Opfer, aus seiner Erzählwelt als ein gealterter und vom Leben gebeutelter Felix Krull (eine letzte Reverenz an den verehrten Thomas Mann), fast ohne eine Spur zu hinterlassen, aber nicht ganz ohne symbolischen Unterton, in einem „kleinen Auto“ französischer Bauart …

Uns bleibt immerhin ein letzter Lesegenuss mit diesem jugendfrischen Alterswerk, das nun im Ullstein-Verlag pünktlich zum heutigen 90. Geburtstag erscheint, den David Cornwell, der Jahrhundertschriftsteller John le Carré, leider nicht mehr erlebt.