Bochum. Knut Hamsuns „Mysterien“ sind im Bochumer Schauspielhaus die ideale Bühne für herausragende Schauspielerleistungen vor allem von Steven Scharf.
Er tritt in den Raum, den er fast noch im gleichen Augenblick durchströmt und der sofort einen neuen Mittelpunkt hat. Selbst wenn er vom Rand her durch die Tür des Theaterparketts tritt, wo sonst das Publikum hereintritt. Und so schnell man Steven Scharf erkennt, weil er ja nicht nur zum Schauspielhaus-Ensemble in Bochum gehört, sondern auch den einen oder anderen „Polizeiruf 110“ und in Kinofilmen gespielt hat, so schnell hat man wieder vergessen, dass er mal Steven Scharf war und nicht jener Johan Nielsen Nagel, der er in den nächsten drei Stunden sein wird.
Er spricht mit dieser charmant durchdringenden, manchmal enervierenden Stimme, der man in jedem vibrierenden Augenblick glaubt, was sie sagt – auch wenn sich einiges später als Lüge herausstellen wird. Er wird leidenschaftlich im richtigen Augenblick, manchmal laut sogar, aber er muss nie brüllen, um noch irgendeine Art von Wirkung zu erzielen. Seine Augen sind ein zweiter Mund, oft rastlos in Bewegung, ein wenig in der Wirklichkeit umherirrend wie der ganze Mensch.
Steven Scharf im kanariengelben Dreiteiler
Johan Nielsen Nagel ist dem Roman „Mysterien“ (1892) von Knut Hamsun entsprungen, der die Sozialcharakterstudien eines Ibsen oder Strindberg noch einmal weiter-, ja überdreht. Die Seele von Johan Nielsen Nagel hat mindestens so viele lose Enden wie seine Geschichte, und die beginnt mit seiner Ankunft in einer kleinen norwegischen Küstenstadt: Zwei kleine Koffer und ein Geigenkasten fallen als Gepäck ebenso auf wie sein kanariengelber Dreiteiler, er beginnt Nachforschungen zu einem verdächtigen Tod (der Selbstmörder hatte die Pulsadern an beiden Armen aufgeschnitten) und stellt der schönen Pfarrerstochter Dagny Kjelland nach, die sich gerade verlobt hat: „Hüte dich vor der Gunst der Frauen!, hat ein großer Dichter gesagt.“
Nagel tötet werweißwozu Dagnys Hund (keine Sorge: auf der Bühne entweicht dem aufblasbaren Riesenwauwau nur die Luft) und erregt auch sonst gern Aufmerksamkeit; außerdem verhilft er einem gemobbten Armen zu Mantel und Würde.
Bochumer Symphoniker spielen wundervolle Musik von Carl Oesterhelt
Selbstverständlich hat Hamsun ihn als Störenfried losgeschickt, der die Kleinbürgergesellschaft erschrecken soll, bis sie ihr wahres Gesicht zeigt. Aber mit der Wahrheit hat nicht nur Johan Nielsen Nagel seine Schwierigkeiten – mehr und mehr zeigt sich im Gefolge von Nietzsche, dass niemand sie kennt (schon gar nicht die „großen Männer“) und das, was alle dafür halten, nur ihre je eigenen Perspektiven auf die Wirklichkeit sind.
Wie Hausherr Johan Simons als Regisseur gemeinsam mit der Dramaturgin Angela Obst den Roman für die Bühne eingedampft, ja destilliert hat, passt er, wenn auch mit Längen hier und dort, gut da hin – und in der Tat nicht in ein Streaming, das in der vergangenen Saison einmal geplant war, aber dann doch wieder abgesagt wurde. Und nun sieht man, warum: Das Leitmotiv des Stücks ist die wundervolle Kammermusik von Carl Oesterhelt, gespielt von 13 Mitgliedern der Bochumer Symphoniker, die mit ihrer Violine, ihrer Viola, ihrem Violoncello und Kontrabass einzeln auf die Seitenwände des Schauspielhauses und den Rückraum der Bühne projiziert werden. Die „Mysterien“-Bühne von Anja Rabes ist spartanisch, auf symbolische Requisiten wie Straßenlaterne, Fernseher, Hotelbett oder Campingstuhl vom Trödelmarkt reduziert, ihre Kostüme mischen Historisches und Heutiges zu einer gewissen Zeitlosigkeit.
Auch Anne Rietmeijer und Guy Clemens glänzen
Herausragendes Schauspielertheater, wie man es mit den „Mysterien“ in Bochum nicht nur von Steven Scharf geboten bekommt, muss jedenfalls mit allen Sinnen spüren, unmittelbar, dann erst wird es ein Fest. Anne Rietmeijer ist als Pfarrerstochter Dagny nicht weniger ein Mysterium als Nagel und doch ein Wesen aus Fleisch und Seele, aus Verstand und Blut. Aber auch Guy Clemens als Johannes Grøgaard, genannt Minute, ist die extrem genaue, vor Leben, Leid und Trotz strotzende Studie eines Erniedrigten und Beleidigten jenseits der Klischees.
Langer, begeisterter Beifall von einem Premierenpublikum, das auch die verbliebenen Plätze im Schachbrettmuster nicht komplett füllen konnte.
3:30 Stunden inkl. Pause. Termine: 3. Oktober (17 Uhr), 23. Oktober (19 Uhr). Weitere folgen.